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Die Kunsf und die Zeit
A lles Geschehen in der Welf, die wir die unsere zu nennen gewöhnt sind, bildet
den Mensdien um und alle Veränderungen im Gebiete der Ökonomie, der
Technik, des Geistes und der Kunst sind nur Zeichen, Merkmale für den Menschen,
um aus ihnen über seine veränderte Anschauung vom Ich und seiner Einordnung in
die Gemeinschaft, die Umgebung, sich Bewusstheit zu verschaffen. In dem ungeheuren
Geschehen unserer Zeit, in dem alle alten feststehenden Werfe relativ, unsicher wurden,
musste vor allem auch die Kunsf als lebendiger Anschauungsunterricht, den der Mensch
sich gibt, um die Welf in sich und sich in der Welf zu erkennen, eine veränderte
Stellung einnehmen. Wie wir allen gedanklichen, wissenschaftlichen, ökonomischen
Besitz in's Wanken geraten sehen, so gerieten auch unsere Vorstellungen auf'dem
Gebiete der sinnlichen Erkennfnisfähigkeif und ihrer verschiedenen Ausdrucksformen
wie Malerei, Plastik, Architektur und Musik ins Wanken; sie traten plötzlich in ein
bisher nicht dagewesenes Stadium des Experimenfierens, für das die Kunsthistoriker
nur sehr schlechte Erklärungen Vorbringen konnten, da sie als zurückblickende, auf
zeichnende Menschen ganz unlebendig sind, und die Zeichen der Zeit immer von einem
willkürlich aufgesfellfen, absoluten ästhetischen Wert aus missverstehen, bis zu dem
grotesken Punkt, an dem Spengler und Worringer anlangten, dass sie, weil ihnen
keine Vergleichsmöglichkeiten aus irgendeiner historischen Periode für den Experimenfal-
zusfand, z. B. der heutigen Malerei und Plastik zugänglich waren, mehr ahnungslos
als kühn behaupten, die Kunsf stürbe oder sei schon tot, ja die gesamte Kultur ginge
unter. Diese Kulfurhisforiker folgern aus der Tatsache, dass die kapitalistisch-bürger
liche Kultur im Zusammenbruch begriffen ist, ungefähr dies: es gibt keinen anderen
Geist als den, der das römische Recht, die griechische Plastik, die gotischen Dome, die
Malerei der Renaissance, das bürgerliche Barock, die Naturwissenschaften und die
Kapifalwirfschaff wie den Militarismus geschaffen hat; eine Zeit, oder ein Geist, der
zu diesen Werfen im Widerspruch steht, ist kein Geist, ist nicht lebensberechfigf, und
also muss die Kultur sterben, wenn diese alten Werte zerbrechen. Aber es ist ein
grober Denkfehler, nur den bürgerlich orientierten Kulfurzusfand als abendländische
Kultur gelten zu lassen, genau so wie es ein grober Denkfehler der Wissenschaft ist,
wenn sie nur und immer wieder mit dem bürgerlichen Typus als Normalmenschen
operiert und ihn den natürlichen Menschen nennt, ohne zu sehen, dass dieser Klassen
typus keine ewige, allgemein gültige Form des Menschen ist. Den natürlichen Menschen
gibt es noch nicht, er blieb eine Hilfskonstruktion zur Erhaltung von Klassenvorurteilen
und zur Befestigung des Bildungsdünkels.
Der naive Vermenschlichungswille, der Drang alles nur inbezug auf den Menschen
mit Werten auszusfaffen, die Notwendigkeit, sich mit den auf den Menschen ein
stürmenden Sinnesproblemen auf eine möglichst einfache Art auseinanderzusetzen, um
der Beherrscher der Welf und der Dinge zu werden, sowie der Mangel an Erfahrung,
liess die illusionistische Kunsf Europas entstehen, die ausserdem in ihrer voreiligen
Fesfsfellungsfreude die Besifzvorsfellungen in ihre Darsfellungsform naiv mifhinein-
nahm, weil sie an den Dinglichkeiten der Welf, als dem Menschen untertan, nicht
zweifelte. Der Mensch war das wichtigste Thema der Kunsf; die ganze sichtbare Welf
wurde dem Menschen durch die Entwicklung der optischen Fähigkeiten immer sicherer
erobert und schliesslich wurde aus der Kunsf statt einer Beschwörungsform gegenüber