IX.
Das Kuinstgevverbe ist in Schlesien noch arg im Übelstande.
Ganz wenige Namen verbiirgen eine neue schöpferische Note.
Unter diesen nenne ich íür Textil und Stickerei: Margarete
H e i d r i c h (Görlitz), Liese T h o n (Rodewald), Architekt
Schönborn und Anita Ronge (Breslau). Spielzeug ver-
suchte Architekt Ernst May anregencl zu gestalten; die Stroh-
puppen und -tiere dér Gebrüder Konrad und Alfréd S c h e u
(Wüstendorf) dürften bekannt geworden sein. Für Innenraum-
gestaltung tritt als Verkaufsinstition dér Leiter dér „Hausr.at-
werke“, Architekt R ö d i g e r, mit unermüdlichem Eifer und
Streben nach Einheit ein. Ihm verdanken wir eine Reihe von
Ausstellungen, bei denen die Bekanntschaft mit Erzeugnissen
des staatlichen Bauhauses in Weimar und Keramiken von
Velten-Vordamm gemacht wurde.
X.
Das Ausstellungswesen war bisher auf zwei priváté Kunst-
austellungen beschránkt: die Galerié Stenzel und T re-
w en d t & G r a n i e r. Durch die Ungunst dér Zeit schlossen
beide ihre Pforten, und es wird dér Versuah gemacht werden,
in den Ráumen dér Ausstellungshalle des „Künstlerbundes
Schlesien“ und dér Kunstakademie stándige gemeinnützige Aus
stellungen einzurichten. Die „Gesellschaft dér Kunstfreunde“
versuchte im Museurn dér bildenden Künste Gelegenheit zum
Einblick in junge Kunst zu gewahren; jedoch ist die menschliche
Spannweite hier eine sehr beschrankte. In Görlitz ist dér „Jaciob
B ö h m e - Bund“ im Wirken; in Oberschlesien besteht ein Kreis,
dér sich uim die Zeitschrift „Die Gáste“ gruppiert ihat. Auch
die gröBeren Stadte Schlesiens zeigen sichtliches Streben nach
Zusammenhang mit schöpferischer Kraft. Breslau besaB bis vor
kurzer Zeit einen Bund ftir zeitgenössische Kunst, „Die
Baistion“, an dessen Stelle nunmehr zwei Institutionen traten,
die in geschlossener Folge von Mitgliedern mit Arbeitsgemein-
schaft sich- als „I< ü n s 11 e r h i 1 f e“ und „Bund f ü r neue
Mnsik“ etablierten. Es ist zu wünschen, das den Bestrebungen
dér juingen Generation von seiten des Auslandes auf Grund dieser
Veröffentlichung das nötige Interessé entgegeng-ebracht wird!
Günter Hirschel-Protsch
VÖM WESEN DES BAUWERKS
(Vortragsbruchstück)
Sie habén gelernt ein Haus aufzubauen, Sie kennen den
Gang dér Arbeit, Sie kennen die zűr Verwendung kommenden
Materialien. Sie kennen die Verbande des Mauerwerks, des
Holzes, des Eisens und allé Einzelheiten dér Konstruktion. Sie
kennen die Arten dér Berechnungen zűr Bestimmung dér
Materi alstarke und habén bestimmte auftretende Krafte aufzu-
finden gelernt.
Sie sind sich aber vielleicht nicht bewuBt geworden, wie
wichtig diese Krafte für die Erscheinung des Hauses sind, Sie
fassen Ihr Wissen vielleicht nicht als Waffe gégén diese Krafte
auf, Sie habén vielleicht nicht das Gefühl, bestandig von diesen
Kraften bedroht zu sein. Sie befinden sich nicht in unaus-
gesetzter Anspannung und Aufmerksamkeit, sich zu schützen
und diese Krafte auch die kleinsten, überall im Geftige Ihres
Bauwerks zu erkennen und aufzuspüren. Sie sind vielleicht
nicht Entdecker genug, habén nicht alles, was in Ihnen ist, frei-
gemacht und Ihrem Willen gehorsam und schmiegsam.
Zűr Schaffung einer Harmonie aber ist das notwendig. Sie
müssen so gut wie das Körperliche auch das Geistige sehen.
Ein Haus ist nicht Anhaufung von Steinen, Kaik und Eisen alléin.
Das Matériái scheint tót, das Werk, das Haus ist Ihnen ein toter
Körper. Aber mit jedem Stein, den Sie zu einem andern fügten,
mit jedem Balken, den Sie an einen anderen reihten, ent-
fesselten Sie eine Kraft. Dieser scheinbar so tote Stein ist un-
lösbar an eine Kraft gebunden, Sie können seinen Körper nie-
mals von ihr trennen. Diese stumme Mauer lebt, sie arbeitet
wirklich, denn sie tragt gleichmaBig Jahr für Jahr die Lasten,
die Sie ihr aufbürden, jene gefügige Balkenlage bietet gleich-
mütig ihren Rücken denTritten von Geschlecht nach Geschlecht
Diese Gewalten leben in Ihrem Haus, sie . sind eínge-
schlossen, gefangen in seinem Körper. Aber wie jeder Ge-
fangene sich nach Freiheit sehnt, wie er das Verlangen hat,
seinen Kerker zu zerstören, so streben auch diese Krafte aus
ihrer Gebundenheit ins Freie, sie drangen entfesselt Ihr Werk
zu vernichten. Sie sind erbarmungslos, wild und unbándig. Sie
sind gefahrlich, denn sie sind unsichtbar. Niemals dürfen Sie
vergessen, daB sie da sind und leben.
Sie könn en sie wegwischen, auslöschen, waren sie körper-
licher Art, denn die Macht über die Körper ist Ihnen bedin-
gungslos g.’geben, aber sie sind Geist und den können Sie nicht
durch die Kraft Ihrer Hánde bekampfen. Die Waffen, die für
Sie Aussicht auf Erfolg habén, sind geistiger Natúr. Gebrauchen
Sie allé Macht und allé Kraft, die Ihnen geg'eben ist, denn Ihre
Feinde sind stark. Seien Sie auf dér Hűt, liegen Sie auf dér
Lauer, lassen Sie nichts autter acht. Nutzen Sie für jede Ihnen
feindliche Kraft eine Gegenkraft. Sehen Sie mit Sorgfalt alles
voraus und machen Sie die Fesseln stark. Wenn Sie dér Feind
überrascht, ist es oft zu spat und Ihr Werk ist zerstört. Das
kann nackte Wirklichkeit sein. Ein grober konstruktiver Fehler
genügt, Ihr Haus zusammenfallen zu lassen. Schlimmer ist ein
künstlerischer, ein geistiger Zusammenbruch, nicht nur weil er
tatsáchlich, körperlich, Jahrhunderte láng sichtbar sein kann.
Gehen Sie immer mutig in den Kampf, Sie dürfen niemals
sagen: dies ist unmöglich. Dies Werk, so wie ich es erdacht
habé, ist durch die und die Krafte bedroht, ich kann sie nicht
bezwingen.
Natürlich müssen Sie t wissen welche Krafte Sie bedrohen
und wo sie auftreten werden, aber Sie müssen ihnen begegnen,
ein Mittel ersinnen, sie unschadlich zu machen. Nichts ist un
möglich, wenn Sie nur das letzte von sich verlangen, wenn Sie
nicht eher sich zufrieden gébén, bis dér Weg zurückgelegt, bis
das Zieí erreicht ist.
Die Krafte, mit denen Sie es zu tun habén, treten natürlich
nicht ganzlich wild und regellos auf, denn sie sind an das
Matéria! gebunden. Aber je nach dér Art und Weise, wie Sie
das Matériái anordnen, werden sie sich auch sehr verschieden
zeigen. Es nutzt Ihnen alsó nichts, wenn Sie eine Reihe von
Schulbeispielen auswendig lernen und nun meinen, Sie könnten
jedem Zufall begegnen. Es kommt viel weniger auf das Wissen
an als auf das Können, historisches Wissen hilft Ihnen wenig
oder nichts. Sie werden immer gerüstet sein, wenn Sie die Art
dieser Krafte begriffen habén, wenn Sie begriffen habén, daB
dieses Nervensystem untrennbar zu einem Hause gehört, nicht
anders wie ein menschlicher Körper — Knochengerüst und
Muskeln — ohne Nerven tót ist. Sie müssen bis in die Finger-
spitzen hinein fühlen lernen, daB diese scheinbar tote Ruhe dér
Massen nur eine Spannung ist, ein sich im Gleichgewicht-
halten feindlicher Krafte.
Sie werden die GröBe des Meeres nur verstehen lernen,
wenn Sie unter seinem Spiegel, unter seiner Oberflache die
Tiefe, den Abgrund fühlen. Ganz ebenso mit geistigen Augen
müssen Sie das Haus sehen. Sie müssen sehen können, daB es
lebendig ist, und Sie müssen in seinen Spannungen sein Leben
suchen. Nicht nur konstruktív, auch künstlerisch.
Wenn mán die geistige Natúr dieser Konstruktion begriffen
hat, denn Stütze, Last, Spannung treten nicht nur körperlich in
Erscheinung, sondern sind auch geistige Begriffe, so wird es
nicht schwer sein, aus Körper und Geist einen beseelten Kőrper,
ein neues Drittes, das Kunstwerk zu schaffen, in dem die Zwei,
die dér Ausgang waren, nicht mehr zu trennen, sondern in ihrer
gegenseitigen Durchdringung Harmonie sind, die etwas völlig
Neues darstellt. Diese Bindung wird nur dann gelingen, wenn
Ihnen die geistige Natúr dér Konstruktion und die Material-
gebundenheit des geistigen Inhalts verstandlich ist. Dieses Neue,
Dritte zu schaffen, ist die Aufgabe.
Adolf Rading