Emmy Hennings, Gedichte, 1916

Emmy Hennings hatte bereits reichlich Bühnenerfahrung, als sie im Frühling 1915 nach Zürich kam. Hier war sie die grosse Diseuse und Stimmungsmacherin, «Stern wie vieler Nächte von Cabarets und Gedichten!» (Züricher Post). Sie erschütterte, wenn sie den Totentanz von Hugo Ball sang, reizte, wenn sie Versen ihren Körper lieh, unterhielt mit Wedekind-Balladen, Chansons von Aristide Bruant oder dänischen Volksliedern und beruhigte das Publikum wieder beim Vorlesen von Prosatexten. Kam das Cabaret-Programm ins Stocken, war sie es, die erfolgreich einsprang. Auch dann, als sie mangels Pass nicht zu ihrer verstorbenen Mutter reisen konnte, welche Hennings neunjährige Tochter in Obhut genommen hatte.

Auf einer geliehenen Schreibmaschine tippte Hennings für das «rote Heft» ihre Gedichte ab, die sie zuvor u.a. in den Zürcher Zeitschriften Die Aehre und Der Revoluzzer publiziert hatte, legte sie in einen von Hand roh zugeschnittenen Halbkarton und verkaufte diese fragilen Hefte im Cabaret Voltaire, das damals noch Künstlerkneipe Voltaire hiess. Sie sicherte sich damit einen kleinen Zusatzverdienst, wie sie es auch durch den Verkauf von Postkarten mit dem Totentanz-Lied tat. Mit Die letzte Freude (1912) war die erste und einzige zuvor erschienene Publikation von Hennings überschrieben. Der Titel sollte ihr Glück über die Veröffentlichung eigener Gedichte ausdrücken. Von Freuden künden auch einige Gedichte im «roten Heft». Vielmehr aber schreit das Heft nach Brot und offenbart innere Not. Die Gedichte variieren nicht einfach zeittypische Motive und Themen: Gefängnis bezieht sich auf ihre Inhaftierungen in München, welche Hennings literarisch wiederholt verarbeitete und die Hans Richter in Skizzen und Zeichnungen auf Papier bannte. Aether und Mädchen am Kai sprechen aus der Seele der rauschgiftabhängigen und sich prostituierenden Hennings, wie sie Reinhold Rudolf Junghanns porträtierte. «Man lebt in Zürich: Ländlich unter Morphinisten» – Hugo Balls einleitender Satz zu seinen ersten Zürcher Impressionen (Die Weissen Blätter, 1915) hatte einen durchaus konkreten Hintergrund.

Ein einziges Mal, in einem Brief von März 1917 an Tristan Tzara, unterschrieb Hennings mit «Ihre Hennings – Dada». Hennings war für Dada Zürich zentral und randständig zugleich. Ihre Poesie war nie Dada, aber ihre Präsenz für das Cabaret Voltaire, für die Galerie Dada und für Dada-Begründer Hugo Ball existenziell. Bei aller flüchtigen Erscheinung war sie Mittelpunkt für viele.

Auflage: Unikat. Inhaltlich und formal ähnliche Gedichtbändchen von grösster Seltenheit. 8 lose, ungeheftete und in der Mitte gefaltete A4-Schreibmaschinenblätter, in rötlichem, von Hand roh mit Schere zugeschnittenem Halbkarton-Umschlag. Titelblatt von Emmy Hennings eigenhändig mit Tinte signiert und betitelt, am unteren Blattrand Adress-Stempel. Provenienz: Hans Bolliger, Zürich, 1980.


→ Emmy Hennings, Brief an Reinhold Rudolf Junghanns, DADA I:27
Cabaret Voltaire, DADA III:37
→ Marcel Słodki, Plakat zur Eröffnung der Künstlerkneipe Voltaire, Gr.Inv. 1992/39
→ Karl Schlegel, Einladungskarte zur Eröffnung der Künstler-Kneipe Voltaire, DADA V:49