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Den ganzen Menschen ermitteln und erheben: vom tiefst Ver- Bern,
2 IV 18
lorenen im Abgrund bis zur höchsten Engelsspitze. Wer dürfte
das wagen? Sind wir nicht eben gehalten, jenen Gegensatz
zwischen Denken und Sein, zwischen Sehen und Tun, zwischen
der Wahrnehmung und der Darstellung aufzuheben? Ist uns nicht
die Nötigung gegeben, die Namen nicht eitel auszusprechen?
Schwören wir nicht, wenn wir nennen? Oder wenigstens: sollten
wir nicht schwören im Nennen? Das ist der traumhafte Zwang
dieser Stunde, daß wir Dinge sehen, die unerhört sind, und daß
wir, von tausend Lügen umgeben, identisch sein müssen mit
unseren Gesichten —, auch wo wir nicht ausreichen; auch wenn
das Herz darüber zerbräche; auch wenn wir, geschwungen von
einer unsichtbaren Hand, in Höhen getrieben wären, die unserer
Naktheit und unserer Blößen spotten.
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Die Gegensätze von Werk und Leben, von Öffentlich und 5. IV.
Privat, von Wissen und Glauben, von Staat und Kirche, von
Freiheit und Gesetz, von menschlicher und christlicher Gerechtig
keit, alle diese Gegensätze gehen zurück auf den lutherischen
Gegensatz von Gesetz und Evangelium. Aber das ist vielleicht
gar kein Gegensatz. Das Evangelium könnte Gesetz und das
Gesetz Evangelium sein. Dem Katholizismus ist diese Trennung
fremd; die Päpste haben Paulus anders gelesen als Luther. Und
sie verhinderten mit dieser Auffassung jene schreckliche Spaltung,
die durch das ganze deutsche Geistesleben sich hinzieht: das