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Jahresbericht 1912 der Zürcher Kunstgesellschaft
DO
im Umriss (vielleicht eine verworfene Studie für eine Engelfigur im «Auserwählten») ;
und der Krieger, den Fig. 2 wiedergibt. Ob dieser aus näherer Nachbarschaft des
«Zornigen Kriegers» oder der Kämpfer von Näfels und Marignano stammt, ist ungewiss.
In der Haltung wiederholt er ziemlich genau den jungen Arnold von Melchtal im Ent-
wurf zum nicht ausgeführten Bild; Harnisch, Schwert und Fahne wären Zutat. Auch
hier liegt das Ausschlaggebende im Steigen und Fallen der Umrisslinie, die die Figur
in ihrer ganzen Macht allein aufbaut. Bleistift- und Rötelschraffuren geben nicht Licht
and Schatten am Modell, sondern dienen als Probe für die Verteilung der Flächen im Bild.
Ueber die «Enttäuschten> und die «Lebensmüden», «Eurythmie» und «Empfin-
Jung » hinaus geht Hodler im «Tag» und folgenden Werken von der Darstellung in voller
Frontal- oder Profil-Ansicht daran, menschliche Körper in schiefer Ansicht mit dem Be-
schauer nur halb zu- oder abgewandten Gliedmassen darzustellen. Zu bisher in aus-
Irucksvollem Umriss wiedergegebenen Flächen, die dem Beschauer gleichgerichtet sind,
gesellen sich andere, die ihm schief entgegenragen, die Grundflächen teilweise decken
and schneiden und doch in die Bildebene gezwungen werden müssen.
Zwei Studien zum «Tag» zeigen, wie der Künstler jetzt die Einheit des Eindruckes
und der Linie nur um so reicher entwickelt. Die eine Figur, sitzend, vom siegreichen
Tageslicht geblendet, nach rückwärts in sich zusammensinkend, gewissermassen konkav;
die andere auf den Knien demütig sich ihm entgegenbeugend, mit hohem gekrümmtem
Rücken, Kopf und Brust von einem starken Rumpf und mächtigen Schenkeln getragen,
alles in einen grossen Umriss zusammengefasst, Figur 3.
Verkürzungen und Ueberschneidungen sind Probleme, die Hodler sich im «Tag»
nicht zum erstenmal stellte, nicht in ihnen liegt das Neue gegenüber früheren Werken,
diese Mittel mögen hier nur bewusst machen, wie in seinen Bildern nach der monumen-
talen Ruhe oder der einseitig gerichteten Bewegung nun ein inneres vielfältig sich regendes
Schwellen und Leben sich zeigt. Wie die Farbe in diesen jüngern Werken allmählig
sich erwärmt und entzündet, so beginnen auch die Figuren von innen heraus sich zu
heben und zu wölben. Eine Zeichnung zum «Weib in Bewunderung» ist von einer Herb-
heit und einem Reichtum des Umrisses, den Dürersche Figuren zeigen; am ganzen Leibe
wird aber auch mit kaum fühlbaren Mitteln die Modellierung so eindringlich gestaltet, dass
die Haut nicht nur über Muskeln sondern ein Skelett sich spannt. Jünger ist die Studie
zum «Lied aus der Ferne», wenige weiche Bleistiftkonturen, darin leichte Wischtöne,
die den Aufbau des Körpers vom innersten Kern heraus erklären und mit der Sicher-
heit eines Marmorwerkes modellieren. Figur 4 gibt eine Bleistiftzeichnung aus neuester
Zeit. Mit wenigen scheinbar ganz losen Umrisstrichen und Wischtönen an der unfehlbar
richtigen Stelle wird alles ausgesprochen, was ein Bildnis zu geben hat.
Es ist ein weiter Weg von jener spanischen Landschaft oder der Pinselzeichnung
les «ewigen Juden» bis zum «Lied aus der Ferne» und dem eben erwähnten Frauen-
kopf. Wie rasch Hodler ein Blatt aufgibt, wenn es ihm das Wichtige gegeben hat, zeigt,
wie wenig er darauf absieht mit einer bereit liegenden ausgeprägten zeichnerischen
Technik den Stoff um seiner selbst oder um der zeichnerischen Wirkung willen zu