Volltext: Jahresbericht 1976 (1976)

gedrucktem Text zu umgeben. Füssli jedoch 
monumentalisiert die Figur, indem er die Linien 
verstärkt und das Nachvornfallen der Haare sowie 
das Kreuzen der Arme und Beine betont, wodurch 
eine Statuenhaftigkeit entsteht, die an Michelangelo 
arinnert. Vermutlich schwebte beiden Malern die 
Kunst Michelangelos vor, als sie daran gingen, die 
Form zu schaffen, welche zum Gemälde « Das 
Schweigen» führen sollte. Gewisse Ähnlichkeiten 
lassen sich feststellen zwischen dieser Figur und 
denjenigen von Jeremias und Jesse an der Decke 
der Sixtinischen Kapelle!!. Blake bediente sich 
dieser Figur auch in anderem Zusammenhang, 
zum Beispiel in der Illustration der « Eliphas-Rede» 
zum Buch Hiob und in seinen Hekate-Monotypien 
von 1792. Während Blake aber die Figur in einem 
arzählerischen oder dekorativen Zusammenhang 
verwendet, schafft Füssli aus ihm ein ikonenhaftes 
3ild von beinahe orientalischer Gelassenheit und 
Rätselhaftigkeit! 2. 
Die kauernde oder sinnende Figur hat viele Vor- 
‚äufer in Füsslis Kunst. Werke wie « Ezzelin und 
Meduna» (Schiff 360), «Der geblendete Polyphem» 
/Schiff 1194) oder «Lady Constance, Arthur und 
Salisbury» (Schiff 722)13 enthalten Figuren in 
ähnlichen Stellungen wie im Gemälde « Das 
Schweigen» — allerdings mit einem entscheidenden 
\Jnterschied. Jede dieser Gestalten sinnt über einen 
bestimmten Vorfall nach: Ezzelin über den Tod der 
Meduna, Constance über die bevorstehende Heirat 
von Blanca von Spanien mit Ludwig von Frankreich 
und Polyphem darüber, dass Odysseus ihn ge- 
olendet hat. Im Gemälde «Das Schweigen» ist das 
ganze Nachsinnen nach innen gerichtet. Es ist ein 
in höchstem Masse introvertiertes Bild, in dem 
das fallende Haar alle Zeichen von Individualität 
auslöscht und daraus eine universelle, allgemein 
gültige Gestalt werden lässt. 
Gert Schiff hat die Bedeutung aufgezeigt, die das 
Haar für Füssli hat!*. Anders jedoch als in des 
Künstlers Darstellungen von seiner Frau oder 
anderen weiblichen Figuren, wo kunstvolle 
Frisuren sorgfältig gestaltet sind, so dass sie ihnen 
beinahe ein düsteres Aussehen verleihen, wirkt bei 
dieser Gestalt das Haar, das die zentrale Achse des 
Gemäldes bildet, wohltuend und wärmespendend. 
Werner Hofmann hat diese Figur im Gemälde 
«Das Schweigen» in seinem Vergleich zu Edvard 
\Munchs « Salome-Paraphrase» als bedrohliches 
Bild ausgelegt!®. Er möchte darin auch Reflexionen 
einer «hallow seclusion of introversion» sehen, 
welcher die Figur zu entrinnen sucht'®, Ich ziehe es 
vor, diese Figur nicht als bedrohlich zu betrachten, 
sondern als eine, die vielleicht urmenschliches 
Verlangen ausdrückt und personifiziert — den 
Wunsch, das vollkommene Schweigen und die 
Ruhe des Mutterschosses wiederzuerlangen. Die 
sichtbaren Anhaltspunkte im Gemälde weisen 
darauf hin. Die Gestalt sitzt von einem schoss- 
ähnlichen Hof umgeben in der Dunkelheit; der 
Kopf der Frau weist nach unten zum Unterleib hin; 
die griechischen Buchstaben deuten auf Schweigen 
hin. Der Mutterleib ist natürlich der Ort, wo grösstes 
Schweigen und Geborgenheit zuerst — wie später 
nie wieder — erfahren werden. 
Füssli hatte ein anderes Gemälde, das er ebenfalls 
«Schweigen» nannte, für seine « Milton-Galerie» 
(Nr. 35; Schiff 915) ausgeführt. Man sieht darauf 
eine Mutter, die mit dem Finger am Mund ein 
schlafendes Kind betrachtet. Ein anderes Kind auf 
der linken Seite ist in Gedanken versunken. Mutter 
und Kind als Bild des Schweigens waren in 
religiösem Zusammenhang spätestens seit dem 
16. Jahrhundert (vgl. Michelangelos «Il Silenzio»!7) 
üblich, in weltlichem Zusammenhang setzte sich 
dieses im 18. Jahrhundert fort in Werken wie 
Greuzes « Silence»'8. Im Zürcher Gemälde jedoch 
hat Füssli die Szene verdichtet, indem er eine 
ikonenhafte Mutterfigur ohne jeglichen erzähle - 
rischen Zusammenhang gestaltet und in ihr das 
Wesen des Schweigens verkörpert. So ist das 
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