scheinlich, dass Baumeister damals die Zeitschrift ‘Stijl (seit
1917) gekannt hat oder Mondrians ‘Neoplasticisme” (1920),
es ist ebenso unwahrscheinlich, dass er die subtile
Gewichtsverteilung der Qualitäten und Quantitäten
(Farben und Flächen) bei Mondrian verstanden hätte oder
fähig gewesen wäre, dessen ästhetisch-kosmische Bezie-
hungen selbsttätig in seinem Bewusstsein hervorzu-
bringen; die Flächenbilder Baumeisters sind entweder
gelungenes Experiment ‘oder erstaunlich begabte und
selbständige Reaktionen auf Begegnungen mit konstrukti-
vistischen Entwürfen dieser Zeit. Baumeister selbst bezieht
sich in seinen damaligen Äusserungen nicht auf Mondrian,
sondern auf Cezanne (abschätzbare Tiefe), den Kubismus
(zusammenwachsende Teile zur Fläche) und den Nachku-
bismus (Organisation der Flächen in der Fläche); so wenig-
stens fasst er seine Vorstellungen in einem Aufsatz über die
Fläche zusammen, der 1923 geschrieben und 1925 in der
‘Baugilde’ veröffentlicht ist.»13 «Verspannung bedeutet
dabei wohl die Absicht, die verschieden grossen, zarttonig-
ausgewogenen Farbflächen unterschiedlicher Tiefenwir-
kung und malerischer Behandlung mittels einer einfachen
schwarzen Linie zu einer neuen Einheit, einer schwe-
benden Ruhe zu bringen.
In der Leichtigkeit des Formenspiels auf seinem uniform
grauen, dünn gemalten Hintergrund der Bildwirkung von
Baumeisters «Verspannung» verwandt, aber fast zwanzig
Jahre später entstanden, mag Friedrich Vordemberge-
Gildewarts «Komposition Nr. 115» 1939/40 den Weg auf-
zeigen, den der Konstruktivismus Richtung «Konkrete
Kunst» genommen hat. In der Verwendung der Gestal-
tungsmittel so radikal wie Mondrian, jedoch ohne dessen
«Aura», im Gegenteil, von der Anonymität einer «Hand-
schrift» bestimmt, die mit dem Bildkonzept darin über-
einstimmt, nicht mehr «bedeuten» zu wollen, als auf dem
Bild vorhanden ist.
Ein wohl intuitiv in den Raum gesetztes schwarzes Linien-
muster aus Quadraten, durch Diagonalen geteilt, und
zweimal als Dreieck «freigesetzt». Sieben Dreiecksfelder
bleiben leer, ebensoviele sind farbig gestaltet: ein mit dem
Pinsel gestupftes Weiss, ein gestupftes Grau (wie der
Hintergrund). und schwarz. Neben den Nichtfarben
kontrastieren Weinrot mit Zitronengelb, und ein dunkles
Grün mit einem dunklen Violett. «Die Schwerelosigkeit
des tänzerischen Rhythmus verwirklichte VG in diesem
Bilde wohl erstmals gültig durch das nuancierte Gleichge
wicht von Form, Farbe und Oberflächenstruktur.»!*
Friedrich Vordemberge-Gildewart wurde 1924 Mitglied
von «de Stijl», war von 1919-35 ın Hannover tätig und
kam 1937/38 erstmals in die Schweiz, wohin er bis zu sei-
nem Tod von Holland aus intensive Kontakte pflegte. So
verwundert es kaum, dass sein Exilbild «Komposition
Nr. 115» Beziehungen zu anderen Werken konkreter
Kunst in der Kunsthaus-Sammlung aufweist, insbesondere
zu Richard P. Lohses «Konstruktion mit Dreieck», 1942.
oder Max Bills «Stabilisierte Weisse Kerne», 1964/71, an
dessen Ulmer Hochschule für Gestaltung er 1954 berufen
worden war.
Mit den Bildern von Jean Baier, Max Bill und Walter
Bodmer (letzteres ergänzt in hervorragender Art ein Draht-
bild und eine Drahtskulptur) und den Zeichnungen von
Camille Graeser, Johannes Itten und Richard P. Lohse
schliessen sich nicht einfach Schweizer Künstlern an — sie
alle sind biographisch und in ihren Bildkonzepten den hier
vorgestellten Werken von Pionieren der geometrisch:
konstruktiven Kunst in vielem verpflichtet. Nicht nur
deren Vorbild als Gestalter von Gebrauchs-Gegenständen
oder ihre Beziehungen zur modernen Architektur haben
sie angeregt, auch in ihren autonomen Werken haben sie
die Prinzipien ihrer Lehrmeister in‘ einer meist freieren,
undogmatischen Art zu neuen Seh- und Denkerlebnissen
verwandelt.
Guido Magnaguagno
| Dieser Ansicht, dass es sich ursprünglich um etwas wie ein Sanitäts:
Kästlein handelt, wird auch von den Restauratoren geteilt.
' Siehe: Vilmos Huszar, Schilder en ontwerper, 1884-1960. Ausstellungs
katalog Haags Gemeentemuseum, Den Haag/Utrecht 1985. S. 29-33.
ı ebenda, S. 36, Abb. 51 und S.158, Ab. 258
‘ Rotzler, Willi. Theo van Doesburg, «Komposition V», 1918, in: Jahres
bericht ZKG, 1984, S. 106-109.
5 Vilmos Huszar, Schilder en ontwerper, a.a.O., S. 55 ff.
‘ Roth, Alfred. Begegnung mit Pionieren, Schriftenreihe Institut fül
Geschichte und Theorie der Architektur ETH Zürich, Band 8. Base‘
and Stuttgart 1973. 5.132