Volltext: Jahresbericht 1988 (1988)

Die beiden etwa gleichzeitig geborenen — 1901 resp. 1905 — 
Künstler verbindet bei allen Verschiedenheiten ihr Aus- 
gangspunkt in einem stark abstrahierenden Surrealismus, 
von dem sich das reife Werk in einem extremen und sehr 
individuellen Stil absetzt. Beide machten in den dreis- 
siger und frühen vierziger Jahren eine lange und schwere 
Schaffenskrise durch; während Giacometti die Arbeiten 
unter den Händen zerfielen, produzierte Newman über- 
haupt nichts. Beide erreichten schliesslich ein Werk von 
hohem existentiellem Ernst. 
«The Moment» nannte Newman bereits 1946 sein 
erstes Gemälde mit einem zentralen senkrechten Strich: 
gleichzeitige Bilder tragen Titel wie «Genetic Moment», 
«The Word I», «The Command», die auf die Schöpfung 
Gottes, aber auch auf die des Künstlers weisen. Longinos 
gibt als Beispiel einer erhabenen Aussage den ersten Be- 
fehl Gottes zu Beginn der Schöpfungsgeschichte: «Und 
Gott sprach: Es werde Licht!» Mit dem Einbruch des 
strahlend einfachen C-Dur-Dreiklangs hat Haydn diesem 
Urbild der Erleuchtung ergreifenden Ausdruck gegeben; 
das leuchtend flammende Gelb in «The Moment I», das 
unversehens die ungrundierte Leinwand durchschneidet, 
wirkt ähnlich lichthaft. Newman wird es selbst als ein 
neuer Aufbruch ins Helle erschienen sein, als er hier zum 
ersten Mal seit seiner Herzattacke 1957 wieder Farbe ver- 
wendete. Insofern bildet das Zürcher Gemälde den Auf- 
takt zu den intensiv bunten Spätwerken; in der medi- 
tativen Strenge und der extremen Sparsamkeit des Ein- 
griffs hingegen ist es den schwarz-weissen Bildern, die in 
den fünf vorhergehenden Jahren entstanden, insbeson- 
dere den vierzehn «Stations of the Cross», eng verwandt. 
Viele Bilder Newmans sind symmetrisch aufgebaut; 
sie betonen das Dasein, die stete Präsenz des «Hier». In 
«The Moment I» bewirken das Querformat und die ex- 
zentrische Anordnung der Streifen einen dynamischen 
Ablauf der Wahrnehmung: Auf dem Weg von links nach 
rechts brechen, quer zur Zeitachse, die leuchtenden 
Linien ein und heben einen Augenblick heraus. Er wird 
als optisches Erlebnis unmittelbar vergegenwärtigt und 
festgehalten, während er sonst für das Bewusstsein kaum 
fassbar vorbeiflieht. Ein ambivalentes Vibrieren be- 
stimmt die Tiefenverhältnisse der verschiedenen Teile 
ebenso wie die Ausrichtung der gelben Streifen; mit 
ihrer ausstrahlenden Aura verwandeln sie die rechteckige 
Fläche zu einem Feld von Energien. Lässt man sich auf 
Newmans Bild ein, erlebt man so als optische Realität, 
was die rationale Alltagserfahrung überschreitet oder 
transzendiert und eine höhere Stufe des Bewusstseins 
ahnen lässt. 
Christian Klemm 
Literatur: 
Thomas B. Hess: Barnett Newman (New York 1969) Abb. S. 77 
Harold Rosenberg: Barnett Newman (New York 1978) Farbabb. 3
	        
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