Die beiden etwa gleichzeitig geborenen — 1901 resp. 1905 —
Künstler verbindet bei allen Verschiedenheiten ihr Aus-
gangspunkt in einem stark abstrahierenden Surrealismus,
von dem sich das reife Werk in einem extremen und sehr
individuellen Stil absetzt. Beide machten in den dreis-
siger und frühen vierziger Jahren eine lange und schwere
Schaffenskrise durch; während Giacometti die Arbeiten
unter den Händen zerfielen, produzierte Newman über-
haupt nichts. Beide erreichten schliesslich ein Werk von
hohem existentiellem Ernst.
«The Moment» nannte Newman bereits 1946 sein
erstes Gemälde mit einem zentralen senkrechten Strich:
gleichzeitige Bilder tragen Titel wie «Genetic Moment»,
«The Word I», «The Command», die auf die Schöpfung
Gottes, aber auch auf die des Künstlers weisen. Longinos
gibt als Beispiel einer erhabenen Aussage den ersten Be-
fehl Gottes zu Beginn der Schöpfungsgeschichte: «Und
Gott sprach: Es werde Licht!» Mit dem Einbruch des
strahlend einfachen C-Dur-Dreiklangs hat Haydn diesem
Urbild der Erleuchtung ergreifenden Ausdruck gegeben;
das leuchtend flammende Gelb in «The Moment I», das
unversehens die ungrundierte Leinwand durchschneidet,
wirkt ähnlich lichthaft. Newman wird es selbst als ein
neuer Aufbruch ins Helle erschienen sein, als er hier zum
ersten Mal seit seiner Herzattacke 1957 wieder Farbe ver-
wendete. Insofern bildet das Zürcher Gemälde den Auf-
takt zu den intensiv bunten Spätwerken; in der medi-
tativen Strenge und der extremen Sparsamkeit des Ein-
griffs hingegen ist es den schwarz-weissen Bildern, die in
den fünf vorhergehenden Jahren entstanden, insbeson-
dere den vierzehn «Stations of the Cross», eng verwandt.
Viele Bilder Newmans sind symmetrisch aufgebaut;
sie betonen das Dasein, die stete Präsenz des «Hier». In
«The Moment I» bewirken das Querformat und die ex-
zentrische Anordnung der Streifen einen dynamischen
Ablauf der Wahrnehmung: Auf dem Weg von links nach
rechts brechen, quer zur Zeitachse, die leuchtenden
Linien ein und heben einen Augenblick heraus. Er wird
als optisches Erlebnis unmittelbar vergegenwärtigt und
festgehalten, während er sonst für das Bewusstsein kaum
fassbar vorbeiflieht. Ein ambivalentes Vibrieren be-
stimmt die Tiefenverhältnisse der verschiedenen Teile
ebenso wie die Ausrichtung der gelben Streifen; mit
ihrer ausstrahlenden Aura verwandeln sie die rechteckige
Fläche zu einem Feld von Energien. Lässt man sich auf
Newmans Bild ein, erlebt man so als optische Realität,
was die rationale Alltagserfahrung überschreitet oder
transzendiert und eine höhere Stufe des Bewusstseins
ahnen lässt.
Christian Klemm
Literatur:
Thomas B. Hess: Barnett Newman (New York 1969) Abb. S. 77
Harold Rosenberg: Barnett Newman (New York 1978) Farbabb. 3