Eigentlich ist es erstaunlich, wie wenig fundiert noch
heute (nach 40 Jahren!) die damalige Situation in der kunst-
wissenschaftlichen Literatur erfasst ist. Nicht nur Poliakoff,
sondern die ganze damalige Ecole de Paris hat in ihrer Wert-
schätzung Höhen und Tiefen erlebt, und wenn heute rich-
tigerweise das Interesse wieder am Steigen ist, SO ist zwei-
fellos eher die vermittelnde Ausstellungstätigkeit der
Museen an der Aufarbeitung der Nachkriegszeit beteiligt
als der theoretisch und analytisch arbeitende Kunsthisto-
riker. Bisheriger Höhepunkt dieser Aktivitäten ist zwei-
fellos die 1988 im Centre Pompidou in Paris durchgeführte
Ausstellung «Les annees 50». Wie unsicher jedoch die Wer-
tungen nach wie vor geblieben sind, zeigt sich gerade darin,
dass Poliakoff in der Ausstellung zwar mit drei Werken prä-
sent ist, in den Texten jedoch kaum erwähnt wird, und dass
von Tobey ein einziges Bild ausgestellt wurde. Eine kriti-
sche und emotionslose Aufarbeitung dieses Jahrzehnts
wäre umso erwünschter, als das zeitgenössische
Schrifttum, das weitgehend von engagierten Kunstkriti-
kern dominiert wurde, eine Sprache spricht, die heute
doch recht antiquiert wirkt. Gerade Poliakoff musste für
weit hergeholte und gewagte Interpretionen hinhalten:
Wie oft hat man in seinen Werken die alten russischen Iko-
nenmalereien zu entdecken vermeint... Dabei scheint
doch seine künstlerische Herkunft viel näher liegend. Er
hat als junger Mann Kandinsky kennengelernt, ebenso wie
Werke anderer Meister der russischen Avantgarde des Kon-
struktivismus. Gerade im Bild «Composition en bleu»
wirkt konstruktives Erbe in den klar gegeneinander abge-
setzen Farbflächen, den präzisen Verspannungen der ein-
zelnen Bildebenen deutlich nach. Die trockene, sich auf
das Wesentliche konzentrierende Malweise steht innerhalb
seines Schaffens an der Schwelle zur Reifezeit, in der die
«peinture», die malerische Vibration der einzelnen Farbflä-
chen, eine zunehmend grössere Rolle einnehmen wird. In
diesem Sinne kontrastiert dieses Bild mit «Bleu mono-
chrome» von 1955, das durch eine viel weiter gehende
Strukturierung der Bildoberfläche, gemilderte Hell-
Dunkel-Kontraste und grösseren Nuancenreichtum ge-
prägt ist. «Composition en bleu» markiert den Beginn einer
neuen Epoche, und es ist sehr wohl nachvollziehbar, was
der Schenkgeber dem Schreibenden gegenüber betont hat:
dass ihm dieses Werk in seiner damaligen Auseinanderset-
zung mit der aktuellen Kunst besonders wichtig war. Und
es darf wohl hinzugefügt werden: es war sicher auch dem
Künstler ein zentrales Werk, das er nur in die Sammlung
eines Engagierten weggeben wolle. 1954 bereits hat es Franz
Meyer vom Künstler erwerben können.
«White Writing», nur zwei Jahre nach dem Bild von
Poliakoff entstanden, repräsentiert hingegen die Phase der
voll ausgebildeten Stilmerkmale des Künstlers. Denn
anders als Poliakoff hat Tobey eine lange künstlerische
Inkubationszeit durchgemacht. Er ist 16 Jahre älter als
Poliakoff, hat in den mittleren dreissiger Jahren seine ersten
persönlichen Ausdrucksweisen, u.a. auch die weisse
Schrift, entwickelt, aber der Schritt zur völligen Abstrak-
tion und zur offenen Struktur ist erst in den späteren vier-
ziger Jahren vollzogen worden. In jener Dekade somit, in
der seine «White Writing» konsequent entwickelt worden
sind. Unser Bild steht somit im zeitlichen wie im inhaltli-
chen Sinne im Zentrum seines Schaffens; es ist in einer Zeit
entstanden, in der Europa noch keine Notiz von Tobey
genommen hat. Seine erste Einzelausstellung auf dem
alten Kontinent fand erst 1955 in der Galerie Jeanne Bucher
in Paris statt -d.h. im selben Jahr, als er in den bereits
erwähnten dritten «Tendences actuelles» erstmals einen
Beitrag innerhalb einer Gruppenausstellung hatte.
Das bereits wiederholt angekündigte, sich in verschie-
denen Ansätzen manifestierende Revival der fünfziger
Jahre ist noch keineswegs abgeschlossen — auch im Kunst-
haus nicht. Unsere beschränkten Platzverhältnisse zwingen
uns immer wieder, ganze Werkgruppen im Keller zu lagern.
Auch die Malerei der fünfziger Jahre würde Besseres ver-
dienen. Ob die Kunsthaus-Erweiterung, im Berichtsjahr in
der Planungsphase weiter getrieben, hier Linderung
bringen wird? Hoffen wir es!
Felix Baumann