Volltext: Jahresbericht 1993 (1993)

Einheit bedeutet meist zugleich eine neue Stufe von 
Gesetzmässigkeit. Blickt man von dem Stilleben von 
Claesz zu den früheren Bildern von Soreau und van der 
Ast, wird das Gemeinte anschaulich: weniger und formal 
einfachere Gegenstände sind stringenter angeordnet, die 
Farben reduziert, Licht und Raum vereinheitlicht, doch 
zugleich weicht das aufzählende Nebeneinander, das exakt 
Abbildungshafte einer neuen Stufe in der Komplexität der 
Fügung der Objekte, der Modulierung des Lichtes und 
seiner Reflexe, in der Exaktheit der Wahrnehmung. 
Gegenstände sind, solange die Kunst abbildend bleibt, die 
einfachsten Gegenstände von Bildern: anders als Land- 
schaften oder gar Lebewesen sind sie klar fassbar, unbeweg- 
lich in sich ruhend, exakt definiert. Stilleben als Bilder von 
Gegenständen entwickelten sich als Isolierungsprozess aus 
einem grösseren Zusammenhang; so löst sich als erstes das 
Vanitas-Stilleben mit dem Totenkopf aus dem komplexen 
Bedeutungsgefüge spätmittelalterlicher Flügelaltäre. Sehr 
schön lässt sich diese Thematisierung von Einzelheiten bei 
Georg Flegel, einem der frühesten professionellen Stille- 
benmaler, verfolgen. Als Gehilfe Valckenborghs malt er 
zunächst in grossen Kompositionen der «Jahreszeiten» die 
Dinge: die Blumen im Garten des «Frühlings», die Früchte 
auf dem Markt des «Herbstes». Doch um 1600 macht er 
sich selbständig, Figuren und Landschaften verschwinden 
und mit ihnen die kosmologische Idee der Jahreszeiten als 
«Bedeutung»; die zunächst noch relativ grossen Stilleben 
werden zunehmend kleiner, die Anzahl der Gegenstände 
sinkt, während ihre künstlerische Durchdringung zu- 
nimmt. 
Der niederländische Bildersturm 1566 führte nicht wie 
in Zürich zu einem Zusammenbruch der künstlerischen 
Produktion, sondern liess, zumal in den protestantischen 
nördlichen Provinzen neue, von den kirchlichen Bedin- 
gungen und devotionalen Zwecken befreite Bildformen 
entstehen. Man könnte den Einbruch mit der Erfindung 
der Photographie vergleichen, welche die Malerei von der 
exakten linearen Abbildung der äusseren Wirklichkeit ent- 
lastete. In beiden Fällen verschob sich die Aufmerksamkeit 
vom Bildinhalt zur künstlerischen Umsetzung, um 1600 
bis zum Extrempunkt der hoch komplexen, verkünstelten 
spätmanieristischen Figurenkompositionen, im 19. und 
20. Jahrhundert vom Impressionismus über die verschie- 
denen Avantgarde-Bewegungen bis zum äusserst subjek- 
tiven und esoterischen Informel. Und beiden vom Alltag 
weit abgehobenen Strömungen folgte mit dem neuen Rea- 
lismus und der Pop Art die möglichst direkte Präsentation 
des unabweislich vor den Augen und den Händen lie- 
genden dinglich Wirklichen: so rücken das Stilleben 
Claesz und die Suppenbüchse Andy Warhols zusammen, 
wobei gerade in dieser Vergleichbarkeit der Unterschied in 
der Auffassung der Dinge und damit im Bezug zur Welt 
krass hervortritt. 
Auf den frühen Stilleben dominieren stets Naturalien: 
Blumen, Früchte und andere Esswaren, Muscheln oder 
eben Totenköpfe; oft tummelt sich Kleingetier oder sitzt 
eine Fliege auf einem Apfel und zugleich illusionistisch auf 
der Bildoberfläche. Doch diese Überschreitung der Nature 
morte verschwindet bald oder wird in eine Sondergattung 
verdrängt; charakteristisch, dass Stoskopff in der jüngst 
vom Basler Museum erworbenen, erstaunlichen «Vanitas» 
den emblematisch auf die Seele verweisenden Schmetter- 
‘ing wieder tilgte. In solchen Evokationen der Eitelkeit des 
Irdischen, wie sie auch Claesz pflegte, machen sich neben 
dem Schädel die von Menschenhand geschaffenen Dinge 
zunächst breit. In unserem Gemälde mag die Uhr an diese 
Tradition erinnern, so wie mit den paar marginalen Hasel- 
nüssen Natur in der knappen Dosis eines Gewürzes zuge- 
lassen wird; ein Messer ist noch vorhanden, zu schneiden 
gibt es nichts mehr. Denn Claesz erfasste früh, erstmals 
bereits in dem 1626 datierten, zauberhaften Nachtbild mit 
Kerze, Glas und Büchern im Mauritshuis, dass künstliche 
Gegenstände dem gestalterischen Zugriff vollständig unter- 
worfen sind, während Pflanzliches letzlich wildwüchsig 
und unkontrollierbar bleibt. 
Claesz wählt auch in unserem Bilde wenige, präzise 
Objekte. Dank der international führenden Handelstätig- 
keit und dem hochstehenden Gewerbe verbreitete sich in 
Holland der allgemeine Wohlstand in einer zuvor nie 
erreichten Weise. Die Grundbedürfnisse der ganzen Bevöl- 
kerung konnten dauernd gedeckt werden, und eine relativ 
breite bürgerliche Schicht verfügte über weit mehr Mittel, 
als sie zum Leben benötigte. Mit diesem neuen Reichtum 
konnte expansiv und mit demonstrativer Fülle verfahren 
werden, besonders etwa, wo ein Konkurrenzverhältnis zum 
Adel bestand: raffinierter und zugleich reiner und damit
	        
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