Volltext: Jahresbericht 1993 (1993)

JOHANN HEINRICH FÜSSLI 
OBERON UND TITANIA 
Zauberhaft sinkt Oberon, Traumprinz und Elfenfürst, in 
waldesdunkler Mondnacht zu seiner Königin nieder; 
unruhig schläft Titania, träumt wohl von ihrem indischen 
Lustknaben, von dem sie nicht lassen will, träumt gar von 
ihrem königlichen Gemahl, wie er eben herbeischwebt und 
ihr Blumensaft in die Augen träufelt? 
«Was du wirst erwachend sehn, 
Wähl’ es dir zum Liebchen schön, 
Seinetwegen schmacht und stöhn. 
Sei es Brumbär, Kater, Luchs, 
Borst’ger Eber oder Fuchs, 
Was sich zeigt an diesem Platz 
Wenn du aufwachst, wird dein Schatz, 
Sähst du gleich die ärgste Fratz!» 
Puck, der koboldhafte Schatten und Diener seines Herrn, 
reicht ihm den Liebeszauber, durch den er sich seines 
Nebenbuhlers bemächtigen will und dessen Lösung ihm 
seine Königin zurückbringen soll. So erfindet Shakespeare 
ein poetisches Gleichnis für die Unerklärlichkeit und 
Sprunghaftigkeit der Liebeswahl, die nicht nur den mond- 
süchtigen Sommernachtsiraum seiner Komödie bestimmt. 
Die auf dem Bilde ausgebreitete, vorzugsweise schla- 
fende Schöne, zu der sehnsuchtsvoll ein männliches Wesen 
kommt, gehört zu den Bildthemen, die in Venedig um 1500 
beliebt werden und den Betrachter weniger durch eine 
besondere Geschichte als durch die allgemein menschliche 
Situation und ihre Stimmung anzusprechen suchen. In 
unserer Sammlung ist diese Tradition durch die Gemälde 
von Poussin und Pellegrini vertreten, beide von abendli- 
chem Zwielicht erfüllt und mit dem ganz unspezifischen 
Titel Venus und Satır versehen, der mit der Göttin der 
Liebe und dem bocksbeinigen Naturwesen gerade keine 
bestimmte Episode, sondern mythische Modellhaftigkeit 
antönt. In der Terminologie ihrer Zeit handelt es sich ent- 
sprechend um «Poesien» und nicht um «Historien»; heute 
würde man davon sprechen, dass dies allgemeine «Rah- 
menthema» über seine spezifische literarische Aktualisie- 
rung dominiert. Füssli kommt ihm in dem Liegenden Akt in 
Basel am nächsten; doch indem er den Mann durch eine 
Klavierspielerin ersetzt, rückt die Szene ins narzisstisch 
Selbstgeniessende: das quasi vegetativ Selbstverständliche 
der älteren Vorstellung zerbricht unter seiner schärferen 
psychischen Spannung oder Analyse, und damit erhält die 
inhaltliche Zuspitzung und zugleich die Figuren gegenüber 
dem atmosphärisch einbindenden und mitschwingenden 
Umraum ein neues Gewicht. Das inhaltlich bestimmte 
Rahmenthema verschiebt sich zu einer Kompositions- 
struktur — eine Figur füllt halb sitzend, halb liegend eine 
untere Bildecke, über ihr steigt eine senkrechte Gestalt 
auf —, der eine bestimmte Beziehungsstruktur der Personen 
entspricht: einem Träumenden oder Erwachenden er- 
scheint ein höheres Wesen, oft als Inhalt eines Traumes. In 
der Fairie Queen, die sich Prinz Arthur im Schlaf offenbart (Basel) 
verwendet Füssli diese Bildform erstmals; für Oberon und 
Titania kann er unmittelbar an dieses Bild anknüpfen. Dass 
dabei die Geschlechter ohne weiteres austauschbar sind, 
verdeutlicht den konzeptuell kombinatorischen Charakter 
von Füsslis Verfahren, die Bildkompositionen als geometri- 
sche Flächengefüge allein aus der Haltung und Gruppie- 
rung der Figuren zu konstruieren. Weitere binäre Varianten 
ergeben sich aus dem Bewusstseins-Zustand der Lie- 
genden: ob schlafend oder wachend, die Erscheinung 
wahrnehmend oder nicht, sodann aus dem Verhältnis der 
Protagonisten in der Seins-Hierarchie: ob gleichartig oder 
ob einem niederen ein Wesen aus höheren Regionen 
erscheint, Damit sind zugleich zentrale Obsessionen und 
Interessen von Füssli benannt: Geschlechter-Spannung, 
Träume, Sphären des Phantastischen. Ebenso deutet die 
Struktur der Beziehung, die nicht dialogisch oder agonal 
gleichgewichtig ist, sondern eine Person im Zustand der 
Lähmung einer extrem aktiv bewegten und einwirkenden 
Gestalt völlig ausliefert, auf den expansiv-unausgegli- 
chenen Charakter Füsslis. Kein Wunder, dass er sich oft 
dieser Bildform bediente; das vorliegende Gemälde darf als 
die glücklichste Ausprägung des Typus gelten.
	        
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