Volltext: Jahresbericht 1993 (1993)

WUURZELWERK. 
ZU ZWEI GESCHENKEN VON GEORG BASELITZ. 
Wann immer ich anfange zu graben, 
finde ich auch etwas. 
Baselitz 
Unsere heutige Situation wird von zwei gegenläufigen 
Impulsen geschüttelt: einerseits dem Fortschritt, der 
immer radikaler mit der Vergangenheit bricht, der Deregu- 
lierung auf allen Ebenen, die man vor ihrer Desillusionie- 
rung Freiheit nannte und die den «Fortschritt» mittels 
Ökonomie durchsetzen soll, andererseits das in der 
Menschheitsgeschichte gleichfalls neuartige und megalo- 
mane Projekt, nichts zu vergessen, sondern vielmehr alles 
Vergangene wieder in die Erinnerung zu heben, der Gegen- 
wart und Zukunft verfügbar zu halten. Die Kunst steht 
mitten in dieser Spannung: auch sie sieht sich dem Druck 
von Fortschritt und Deregulierung ausgesetzt, so dass ihr 
Gesetz zu lauten scheint: Alles ist erlaubt — ausser allem, 
was es bereits gibt. Zugleich aber liegt es in ihrer Natur, 
gegen das Vergessen anzuarbeiten: ihre Werke vor allem 
sollen der Vergänglichkeit entzogen sein, das Heute dem 
Morgen überliefern und dem Heute den Zugang zur Ver- 
gangenheit offen halten. 
Georg Baselitz hat durch seine Übersiedlung aus dem 
Osten Deutschlands in den Westen diese Problematik in 
ungewöhnlicher, Existenz angreifender Dichte erfahren. 
Zu dem Zeitsprung kam der Paradigmawechsel von einer 
primär inhaltlich zu einer weitgehend formalistisch orien- 
tierten Kunst, gegen die er sich alsbald sträubte. Die wider- 
sprüchlichen Forderungen, die er nicht einfach ignorieren 
mochte, trieben ihn in eine aggressive Haltung, in der er 
ihnen standhalten konnte. Dabei griff er auf grundlegende 
Positionen der Moderne selbst zurück und brachte deren 
nicht zuletzt auf Zerstörung zielendes Potential provo- 
kativ zur Geltung. Insbesondere der in dem Wurzelgrund 
der Psyche stochernde Surrealismus und die schonungslos 
schützende Konventionen aufreissenden Schriften Anto- 
nin Artauds eröffneten ihm quasi dekonstruktivistische 
Verfahren, in denen er in einer Dialektik von Zerstören und 
Aufheben für ıhn wesentliche Vorstellungen, Obsessionen, 
Erinnerungen gestalten konnte. In der ersten «pandämoni- 
schen» Phase traten diese Inhalte noch recht unvermittelt 
ins Bild; doch in dem Masse, wie er die künstlerischen 
Mittel zu beherrschen und zu entwickeln vermochte, ver- 
schob sich die Bruchlinie ins Formale. Nach den in Umriss 
und Flächen zerfallenden Helden-Bildern und den die 
Figuren durch Schnitte und Verschiebungen zerreissenden 
Frakturbildern erwies sich die Umkehrung des Bildmotivs 
1969 als ein so radikal innovatives Verfahren, dass die 
Gegenstände wieder in ihrer Normalform zulässig wurden. 
Das Machen von neuen Bildern erschien nun als das zen- 
trale Problem und rückte in den Mittelpunkt der Bemü- 
hungen. Zunächst entwickelte Baselitz seine in engerem 
Sinne malerischen Fähigkeiten, die «peinture», in den bril- 
lianten Adlr-Bildern etwa oder in der sinnlich raffinierten 
Fingermalerei. Zunehmend rückten dann Fragen der Bild- 
konstruktion ins Blickfeld: das Verhältnis des Bildinneren 
zum Rand, der Figur zum Grund, um nur zwei der wichtig- 
sten zu nennen. Die Bildform des Diptychons ermöglichte 
es ihm durch die polare Zuspitzung, solche Probleme in 
Fügungen von systematischer Notwendigkeit zur Geltung 
zu bringen. Unser Diptychon Das Akelier markiert hierin 
einen Höhe- und zugleich den Wendepunkt, indem nun 
die alte Aufgabe, die Arbeit am Inhaltlichen, am Erinnern 
und am Mythos wieder wichtig wird: dem formbetonten 
Stilleben steht die haltungsbetonte Ausdrucksfigur des 
Malers mit seiner Schrifttafel gegenüber. 
Was nun an die Oberfläche tritt, findet sich auf den 
beiden zugehörigen Diptychen Die Familie und Deutsche 
Schule: Die Kindheit im Eltern- und Dorfschulhaus 
Deutsch-Baselitz, Erinnerungen an die idyllische Land- 
schaft mit Weiher und Baum, das Jugendtrauma der Zerstö- 
rung Dresdens, die Ruinen von Stadt und Brücke, die 
schon 1978 mit der Trümmerfrau angesprochen wurden. 
Bereits in den Helden-Bildern wird deutlich, dass dem sich 
nach seiner Heimat nennenden Baselitz nicht an der städti- 
schen «vie moderne» gelegen ist, sondern dass seinem 
Erleben ein anderer, wichtigerer Strang der modernen 
Kunst entspricht: das Anknüpfen an archaische als ur- 
sprünglichere, dem Menschen eigentlichere Vorstellungen, 
in die er allerdings die Gebrochenheit unserer Zeit ein-
	        
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