Volltext: Jahresbericht 1993 (1993)

bringt. So verlässt er Berlin und zieht 1966 aufs Land; hier 
entstehen die Frakturbilder von Kühen, Hunden, Holzfäl- 
'ern, doch nie als Abbildung von Natureindrücken. Zu erin- 
nern ist auch an seinen Kontakt mit Anselm Kiefer, ın 
dessen Nähe er in den frühen siebziger Jahren wohnt; 
dessen Zürcher Bild Parsifal zeigt nichts anderes als den 
Dachboden von Baselitz’ damaligem Atelier. 
Das Akelter, die beiden zugehörigen Diptychen und das 
achtzehnteilige Yrassenbild entstanden 1979/80 für den 
deutschen Pavillon der Biennale, in dem vier Jahre zuvor 
Joseph Beuys mit seiner Srassenbahnhaltestelle mit dem Loch 
in den wässrigen Grund der Lagune einen Schacht in die 
Tiefe seiner Kindheit gebohrt hatte. Ausgestellt wurden 
dann aber nicht diese Gemälde, sondern die erste Skulptur 
von Baselitz, ein zurücksinkender Mann, der —nur halb aus 
dem rohen Holzblock gehauen — in seinen primären 
Formen noch urtümlicher als jede Malerei wirken musste. 
Seither entstehen abwechselnd solch archaisch idolhaft 
anmutende Holzbildwerke und Gemälde und unter diesen 
bald mehr von formalen Untersuchungen bestimmte, wie 
die Orangenesser oder die Stilleben, bald von gewichtigeren 
Themen belastete. So setzen sich mehrere Bilder mit der 
Gestalt Edvard Munchs auseinander; die Reihe kulminiert 
im Brückechor und seinem Zwillingsbild, unserem Nachtessen 
in Dresden, in dem sich die kunsthistorische Ahnenevoka- 
tion mit der christlichen Thematik berührt. Auch diesem 
Bereich sind mehrere Gemälde gewidmet, formal Anre- 
gungen Piero della Francescas aufgreifend und fasziniert 
von der legendenhaften Vorstellung der «vera icon». 
1985/86 wendet sich Baselitz der anderen grossen 
abendländischen Tradition zu, der heidnischen Antike; 
Arkadien, das den Intrigen und Korruptionen von Hofund 
Stadt entgegengesetzte, idyllisch schlichte Land der 
Schäfer und Dichter, sucht er in zwei seiner schönsten und 
komplexesten Gemälden — Pastorale, die Nacht und Pastorale, 
der Tag, beide im Kölner Museum —neu zu gestalten. In der 
rechten Hälfte erblickt man jeweils eine grosse Frau, die 
vom Scheitel am unteren bis zu den Unterschenkeln am 
oberen Bildrand ragt; auf ihrem Geschlecht liegt, einmal 
nach oben, einmal nach unten gerichtet, ein kleiner Baum. 
[m Tagbild wächst aus ihrer Flanke ein Adlerkopf zu dem 
übergrossen, isolierten männlichen Gesicht in der anderen 
Hälfte; sein Schnabel reicht zwischen Ohr und Auge, der 
passenden Stelle für die Inspiration eines Malers. Auf dem 
linken Auge hingegen weidet, klein und blau entrückt, ein 
Pferdchen, das auf dem Nachtbild rot und wesentlich 
grösser an einem Teich mit Haus und Baum im Hinter- 
grund grast. ‚Diese Landschaft erscheint auf einer 
schwarzen Fläche, aus der wie aus einem Baumstamm oder 
einer Bettdecke der kleinere Kopf des Mannes in der 
Gegenrichtung, d.h. aufrecht, schaut: die Zeichen der 
Erinnerung an seine Jugend liegen wie ein Traum auf ihm. 
Mit diesen beiden Gemälden erreicht Baselitz in der 
rätselhaften Fügung des Menschenpaares, seiner Tiere und 
den Zeichen seiner Umwelt eine neue Bildform; es sind 
nicht mehr einfach umgekehrte Einzelmotive oder Szenen, 
sondern ein Zusammentreten von Einzelmotiven in unter- 
schiedlichen Grössen und Richtungen zu einem hierogly- 
phischen Gebilde, dessen Syntax von den offensichtlich 
bedeutungsvollen Beziehungen unter den zeichenhaften 
Wesen bestimmt wird. So ist es nicht nur die plötzliche 
Fülle von Tieren, die Verwendung der Bedeutungsgrösse, 
die traumwandlerisch grobe und sichere Pinselschrift, die 
an die ähnlich raumlos symbolisch zusammengesetzte 
Höhlen- und Katakombenmalerei denken lässt, sondern 
eine tatsächliche Verwandschaft mit diesen archaisch 
ursprünglicheren, bedeutungsmächtigen Wandbildern: 
sollte hier Baselitz jene Neuinterpretation uralter Gat- 
tungen versucht haben, die ihn in der Skulptur faszinierte 
und glückte? Umgekehrt finden sich jedenfalls unter den 
zahlreichen Studien, die das Bilderpaar vorbereiteten und 
es weiter verarbeiteten, auch Entwürfe für eine Kopf- 
skulptur, die halb im Block steckend und ein Pferdchen am 
Mund zeigend, als ein Konzentrat der Gemälde erscheint. 
Als plastisches Gebilde schwer vorstellbar, kam es nicht zur 
Ausführung; doch wenig später nahm Baselitz den Grzss aus 
Oslo in Angriff. Die ersten Skizzen erinnern nicht nur im 
Allgemeinen an die mächtige, fusslose Frau aus den Pasto- 
len; es finden sich auch die beiden Rundformen zuseiten 
der Scham und der androgyne Charakter des Geschlechts 
in den beiden Zuständen, die in den Bildern die Bäumchen 
markieren. 
Während der Arbeit am Gruss aus Oslo beginnt Baselitz 
das Rote Pferd, Zunächst zeichnet er es wie im Nachtbild mit 
gesenktem Kopfe weidend; wenige Striche oder Verunreini- 
gungen auf dem Blatt evozieren eine Landschaft. Doch
	        
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