Volltext: Jahresbericht 1993 (1993)

nelle Beziehung von Strassenbauwerk und Reit- oder Zug- 
tier angesprochen, betont Brücke Baum, Pferd, Adler, Haus, 
Krug, Haufen, Kopf (3. VI. —30. 1X. 1986, Düsseldorf) eher die 
formale Ähnlichkeit des grasenden Rosses mit den Pfeilern 
und Bögen. Diese eher oberflächlichen Zusammenhänge 
wurzeln in der gemeinsamen Zuordnung zum Unterirdi- 
schen, Todverhafteten. Beim zuletzt genannten Bild steht 
das Pferd als einziges Motiv aufrecht; das aber bedeutet in 
Baselitzens verkehrter Welt, dass das Ross verkehrt ist — es 
ist das Spiegelbild aus der Tiefe der Quelle, wie die Stellung 
des Tieres im Bild und mehrere Zeichnungen zu Pastorale 
verdeutlichen. Daher mag auch die vom alten Ägypten bis 
zu Paul Klee verbreitete Vorstellung stammen, dass das 
Reich der Toten umgekehrt gerichtet ist. Das Rote Pferd ist 
wohl auch von diesen Zusammenhängen berührt; viel- 
leicht deutet der rote Ocker ausser auf das erwähnte urzeit- 
liche Bestattungsritual auch auf das verheerende Feuer hin, 
das die Stadt verwüstete; jedenfalls erinnern seine Formen, 
insbesondere Hinterhand und Flanke, an die grossen 
Tränen, die sich in jener Zeit öfters bei Baselitz finden und 
die wie der Titel Gruss aus Oslo auf Munch zurückgehen. 
«Wie gut ist eigentlich die Bodenhaftung? Stehen, 
fallen, fliegen.» — Solches beschäftigte Baselitz wohl nicht 
zum ersten Mal, als er die Frage zwischen der Arbeit an den 
Ciao America- und den Vöolkstanz-Bildern zu Papier brachte. 
Denn wo die Füsse oben und die Köpfe unten hängen, 
scheint das Problem unabweislich, und dies um so eher, als 
die angesprochenen Themen erdverwurzelt und erinne- 
rungsgetränkt sind: die trapperartigen Helden, die Wald- 
arbeiter, der besprochene Komplex um Kindheit und Pasto- 
rale, schliesslich der Untergang 1945. Aber vielleicht führte 
ja gerade die Unmöglichkeit, mit diesen Themen ange- 
sichts ihrer Belastung und der Inhibitionen der «Moderne» 
fertig zu werden, zur Umkehrung des Motivs — jedenfalls 
hat diese offensichtlich viele Probleme gelöst: die Ver- 
krampfungen weichen einer ungeahnten Mallust. Zu- 
nächst entstehen schlicht kopfständig gemalte Bilder; 
doch da ein Boden oben nicht die gleiche Notwendigkeit 
beanspruchen kann wie unten, beginnt sich in den späteren 
siebziger Jahren die Bodenhaltung zu lockern: die Mass- 
nahme entwickelt, wie nicht anders zu erwarten, ihre 
Eigendynamik. Durch die Umkehrung wurde vor allem das 
Raumsehen zugunsten der Bildwahrnehmung aufgehoben 
oder zumindest stark gebrochen; nun verlieren sich die 
Raumangaben um das Motiv: warum sie malen, wenn sie 
sowieso neutralisiert werden sollen? Vielmehr drängen 
abstrakte, flächenkonforme Elemente in die Komposition; 
2in weisses Quadrat etwa setzt sich mitten in einem 
schwarzen Bild einem Adler ins Genick — das Resultat ist 
erstaunlich (1978, Stuttgart). Problemgeschichtlich ge- 
sehen, handelt es sich um eine neue, kurzschlussartige 
Lösung der uralten Frage nach der «Stilfigur», der Verwand- 
lung des Abbildes in ein kunstgerechtes, eigengesetzliches 
Werk. Was dies für die Herstellung von Bildern, für die 
Anordnung von Farben und Linien auf einer rechteckigen 
Fläche bedeutet, ist erst den Nabis richtig deutlich 
geworden. In unseren bahnbrechenden Quatre panneaux deco- 
ratifs - Femmes au jardin von. Bonnard finden sich denn 
erstmals in der Malerei etliche der Verfahren und Elemente, 
die auch Baselitz in den achtziger Jahren verwenden wird, 
Zugleich zeigte sich.bereits dort eine markante Lockerung 
der Bodenhaltung: nicht die Schwerkraft stellt diese arabes- 
kenartig tänzerischen Figuren auf einen sich im Raum ent- 
wickelnden Grund, sondern die Kraftlinien des Rahmen- 
viereckes bestimmt ihre Lage im Bildfeld. 
Bereits in dem Diptychon Das Akelier gibt es Rauman- 
gaben nur mehr als Zitat in dem Stilleben auf dem linken 
Flügel; kritisch wird es in den Srandbildern ab 1980: wie liegt 
man verkehrt? Srandbild 6 - Handtuch zeigt auf einem durch- 
gehenden, ganz ungerichteten hellblauen Grund eine 
Figur, die mit ausgebreiteten Armen ein Tuch über den 
Kopf streckt: sitzt sie und schwingt es über sich, oder bückt 
sie sich und breitet es unter sich aus? Die für die Ausstellung 
Zeitgeist gemalten Bilder, deren Bildaufbau aus weissen, 
schwarzen und gelben Rechteckflächen uns noch beschäf- 
tigen wird, führen diese Problematik weiter. Franz im Belt 
‘jegt eigentlich verkehrt verkehrt. Bei den etwa gleichzei- 
:igen Munch-Bildern gibt es entsprechend doppelt umge- 
drehte und somit wieder richtig stehende Köpfe: «Geister» 
sieht hier Dieter Koepplin. In Das letzte Selbstbildnis T berührt 
der Maler «oben» eine perspektivisch auf ein Fenster zulau- 
fende «Decken»-Konstruktion derart; dass sie unabweislich 
als «Boden» wirkt und entsprechend die Figur tatsächlich 
auf dem Kopf steht. Auf dem grossen Gemälde in Basel Die 
Nacht dehnt sich die Frau frontal auf dem Bett,
	        
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