gerückte weiss/blau/rot/schwarze Quadratmusterfeld in
Volkstanz IV um das in alle Richtungen blaue Krüge aus-
einanderstreben; in VWölkstanz - marode bildet ein breites
Schachbrett-Band den unteren Abschluss —subkutan oder
verinnerlicht ist das Formprinzip in allen Bildern der Serie
wirksam.
Für das Verständnis eines weiteren zentralen Aspektes
der Struktur von Völkstanz I und Völkstanz II müssen wir zur
Entwicklung der Motiv-Grund-Beziehung, die wir bis 1982
verfolgt haben, zurückkehren. Dominierte damals — wie
bemerkt — das orthogonale Konstrukt des Grundes die
Figur, so erreichte Baselitz 1984 in den Abgar-Bildern die
Engführung der beiden Prinzipien: Das Motiv, ein fron-
vales Gesicht, das durch den Titel mit einer wunderbar ent-
standenen «Vera icon» in Verbindung gesetzt wird, füllt das
Bildfeld vollständig, erhält aber durch seine malerische
Gestaltung, vorzugsweise durch die abstrakte Aufteilung in
Farbfelder entlang der Mittelachse, den ästhetischen Cha-
rakter eines flachen Bildgrundes. Die Beziehung zur Iko-
nenmalerei weist einmal mehr auf die prinzipielle Ableh-
nung des räumlichen und plastischen Illusionismus; aber
während deren Gold das Ineins von kostbarer Gegenständ-
lichkeit und dessen Aufhebung als immaterieller Erschei-
nungsort des transzendenten Geistes im Reflex des Lichts
bedeutet, wirkt Baselitzens pastoses Gedränge der Malsub-
stanz voller sinnlich dichter Farbmasse irdisch oder gar
erdig genug: eher einem Acker als dem Himmel ver-
gleichbar. Im Rüstzeug des Malers entwickelt er die Wunsch-
vorstellung, so lange Arme zu haben, dass er einen halben
Meter hinter dem Bild arbeiten könne: wohl wie ein Gra-
bender oder ein Fischer, der sein Netz auf der Leinwand
auswirft, der «geheimnisvolle Tiefseefisch aber ist drinnen,
hinter der Leinwand». In 45 hat er dieses surreale, jenseitige
Problem schliesslich mit Brachialgewalt in Angriff
genommen und eine ganz eigene, schwebende Tiefen-
dimension erreicht.
In Völkstanz IM verdichten und verweben sich die ver-
schiedenen, bisher angesprochenen Überlegungen zu
einem ästhetisch extremen Gefüge, einem Grenzgebilde
am Berührungspunkt unvereinbarer Bereiche —eine surrea-
listische Komposition gewissermassen, aber nicht als Klit-
terung widersprüchlicher Dinge wie Regenschirme oder
Nähmaschinen, sondern als alchimistische Fusion inkom-
patibler Elemente und Prinzipien. Die Engführung von
Motiv und Grund geschieht hier genau umgekehrt wie bei
den Abgar-Bildern: nicht ein einzelner Gegenstand füllt das
Viereck, sondern alle Teile des Flächenmusters sind Gegen-
stände — alles ist voller Fische, über-, unter-, hinter-, durch-
einander. Alle sind völlig flach, keine Modellierung, kei-
nerlei Perspektive, weder durch Atmosphäre, Diagonalen,
Grössenverhältnisse, Farbstufungen, und doch dringt hier
Baselitz durch das Gewimmel der Überlagerungen unter
die Leinwand vor — ohne sie aufzuheben. Dies erreicht er
durch das Verwirrspiel von leeren Umrisszeichnungen und
durch ihre Form gerade knapp als Fische bestimmten Farb-
AQächen: dauernd kippt die Wahrnehmung zwischen Fleck
und Gegenstand, zwischen Farbe und Form, zwischen
Umriss und Grund, der seinerseits wieder zu einem Fisch
über noch weiteren Fischen wird. Die «Unschärfe-Rela-
tion», die diesen Tanz der visuellen Erfahrung ermöglicht
und beflügelt, wird von dem gestisch munteren, energisch
lebensvollen «Gepinsel» begründet.
Weiteren formalen Eigenheiten nachzuspüren — etwa
den Qualitäten von Streumustern, wie sie Baselitz vom
Herbst 1988 bis in den Frühling 1989 und wiederum ganz
anders nach 45 und den anschliessend entstandenen Skulp-
turen ab Mitte 1990 verwendete, oder was unter solchen
Verhältnissen mit dem «Ding», das er mitten ins Bild zu
setzen pflegt, geschieht = sei nun der Entdeckungslust, der
Gestalt-bildenden Phantasie des Betrachters überlassen.
Vielleicht wäre aber abschliessend noch eine Bemerkung
zum Inhaltlichen und zum Titel erwünscht. In dem
Katalog der Ausstellung, in dem diese Werkgruppe erstmals
gezeigt wurde, findet sich unter der Überschrift Ciao Ame-
rica ein kurzer Text, dem wir bereits das den zweiten Teil
einleitende Zitat entnommen haben. Im übrigen ist von
der Schwierigkeit, «aus Verständnis, Überlegung, Analyse
hinter das Rätsel der Bilder zu kommen», von der Photogra-
phie einer türkischen Wasserträgerin, einem Tonband mit
körperstraffenden Volkstänzen, Fords Vorlieben für diese
nebst Geldlaunen und Diät-Kult sowie von anderem mehr
die Rede. Die Lektüre von Texten Baselitz’ bietet als ständig
assoziativ über verschiedene Ebenen springender Hürden-
lauf eine gute Einübung in die von seinen Bildern immer
neu geforderte Bereitschaft zu Perspektivwechseln. Man
muss wohl versuchen — die theoretischen Grundlagen ım