Volltext: Jahresbericht 1993 (1993)

gerückte weiss/blau/rot/schwarze Quadratmusterfeld in 
Volkstanz IV um das in alle Richtungen blaue Krüge aus- 
einanderstreben; in VWölkstanz - marode bildet ein breites 
Schachbrett-Band den unteren Abschluss —subkutan oder 
verinnerlicht ist das Formprinzip in allen Bildern der Serie 
wirksam. 
Für das Verständnis eines weiteren zentralen Aspektes 
der Struktur von Völkstanz I und Völkstanz II müssen wir zur 
Entwicklung der Motiv-Grund-Beziehung, die wir bis 1982 
verfolgt haben, zurückkehren. Dominierte damals — wie 
bemerkt — das orthogonale Konstrukt des Grundes die 
Figur, so erreichte Baselitz 1984 in den Abgar-Bildern die 
Engführung der beiden Prinzipien: Das Motiv, ein fron- 
vales Gesicht, das durch den Titel mit einer wunderbar ent- 
standenen «Vera icon» in Verbindung gesetzt wird, füllt das 
Bildfeld vollständig, erhält aber durch seine malerische 
Gestaltung, vorzugsweise durch die abstrakte Aufteilung in 
Farbfelder entlang der Mittelachse, den ästhetischen Cha- 
rakter eines flachen Bildgrundes. Die Beziehung zur Iko- 
nenmalerei weist einmal mehr auf die prinzipielle Ableh- 
nung des räumlichen und plastischen Illusionismus; aber 
während deren Gold das Ineins von kostbarer Gegenständ- 
lichkeit und dessen Aufhebung als immaterieller Erschei- 
nungsort des transzendenten Geistes im Reflex des Lichts 
bedeutet, wirkt Baselitzens pastoses Gedränge der Malsub- 
stanz voller sinnlich dichter Farbmasse irdisch oder gar 
erdig genug: eher einem Acker als dem Himmel ver- 
gleichbar. Im Rüstzeug des Malers entwickelt er die Wunsch- 
vorstellung, so lange Arme zu haben, dass er einen halben 
Meter hinter dem Bild arbeiten könne: wohl wie ein Gra- 
bender oder ein Fischer, der sein Netz auf der Leinwand 
auswirft, der «geheimnisvolle Tiefseefisch aber ist drinnen, 
hinter der Leinwand». In 45 hat er dieses surreale, jenseitige 
Problem schliesslich mit Brachialgewalt in Angriff 
genommen und eine ganz eigene, schwebende Tiefen- 
dimension erreicht. 
In Völkstanz IM verdichten und verweben sich die ver- 
schiedenen, bisher angesprochenen Überlegungen zu 
einem ästhetisch extremen Gefüge, einem Grenzgebilde 
am Berührungspunkt unvereinbarer Bereiche —eine surrea- 
listische Komposition gewissermassen, aber nicht als Klit- 
terung widersprüchlicher Dinge wie Regenschirme oder 
Nähmaschinen, sondern als alchimistische Fusion inkom- 
patibler Elemente und Prinzipien. Die Engführung von 
Motiv und Grund geschieht hier genau umgekehrt wie bei 
den Abgar-Bildern: nicht ein einzelner Gegenstand füllt das 
Viereck, sondern alle Teile des Flächenmusters sind Gegen- 
stände — alles ist voller Fische, über-, unter-, hinter-, durch- 
einander. Alle sind völlig flach, keine Modellierung, kei- 
nerlei Perspektive, weder durch Atmosphäre, Diagonalen, 
Grössenverhältnisse, Farbstufungen, und doch dringt hier 
Baselitz durch das Gewimmel der Überlagerungen unter 
die Leinwand vor — ohne sie aufzuheben. Dies erreicht er 
durch das Verwirrspiel von leeren Umrisszeichnungen und 
durch ihre Form gerade knapp als Fische bestimmten Farb- 
AQächen: dauernd kippt die Wahrnehmung zwischen Fleck 
und Gegenstand, zwischen Farbe und Form, zwischen 
Umriss und Grund, der seinerseits wieder zu einem Fisch 
über noch weiteren Fischen wird. Die «Unschärfe-Rela- 
tion», die diesen Tanz der visuellen Erfahrung ermöglicht 
und beflügelt, wird von dem gestisch munteren, energisch 
lebensvollen «Gepinsel» begründet. 
Weiteren formalen Eigenheiten nachzuspüren — etwa 
den Qualitäten von Streumustern, wie sie Baselitz vom 
Herbst 1988 bis in den Frühling 1989 und wiederum ganz 
anders nach 45 und den anschliessend entstandenen Skulp- 
turen ab Mitte 1990 verwendete, oder was unter solchen 
Verhältnissen mit dem «Ding», das er mitten ins Bild zu 
setzen pflegt, geschieht = sei nun der Entdeckungslust, der 
Gestalt-bildenden Phantasie des Betrachters überlassen. 
Vielleicht wäre aber abschliessend noch eine Bemerkung 
zum Inhaltlichen und zum Titel erwünscht. In dem 
Katalog der Ausstellung, in dem diese Werkgruppe erstmals 
gezeigt wurde, findet sich unter der Überschrift Ciao Ame- 
rica ein kurzer Text, dem wir bereits das den zweiten Teil 
einleitende Zitat entnommen haben. Im übrigen ist von 
der Schwierigkeit, «aus Verständnis, Überlegung, Analyse 
hinter das Rätsel der Bilder zu kommen», von der Photogra- 
phie einer türkischen Wasserträgerin, einem Tonband mit 
körperstraffenden Volkstänzen, Fords Vorlieben für diese 
nebst Geldlaunen und Diät-Kult sowie von anderem mehr 
die Rede. Die Lektüre von Texten Baselitz’ bietet als ständig 
assoziativ über verschiedene Ebenen springender Hürden- 
lauf eine gute Einübung in die von seinen Bildern immer 
neu geforderte Bereitschaft zu Perspektivwechseln. Man 
muss wohl versuchen — die theoretischen Grundlagen ım
	        
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