Volltext: Jahresbericht 1993 (1993)

wie sie eigentlich nur von oben gesehen werden kann: von 
dem grossen Kopf, der sich über sie neigt, oder von einem 
schwebenden Betrachter. Wenn Kinder zeichnen, beob- 
achtet Baselitz, neigen sie die Köpfe über das Blatt, das auf 
dem Tisch liegt, drehen und wenden es um und um. Ist es 
nicht auch mit Pastonale - Die Nacht so? Liegt der Mann «auf- 
recht», mit der Landschaft seiner Jugend bis zum Halse 
zugedeckt, so liegt wohl auch die umgekehrt gezeigte Frau. 
Mit dem Motiv der Fische kommt diese neue Inver- 
sions-Richtung zu ihrem Ziel: wo es keine Füsse gibt, ist 
Bodenhaltung kein Problem mehr. Wenn man über das Eis 
geht, sieht man sie von oben, Richtung spielt keine Rolle. 
Fischteiche gab es auch in Deutsch-Baselitz; einst sei er 
umgefallen und auf dem Eis hart aufgeschlagen, meldet der 
Künstler im Rüstzeug des Malers; davon sei ihm ein singender 
Ton im Schädel geblieben. Schliesslich hat er die Bilder auf 
den Boden gelegt, die weisslichen Bilder der Serie, die 1991 
unter dem Titel Hammergrün ausgestellt wurden: darauf ist 
er mit den Stiefelsohlen als Pinsel in Schwarz rumgelaufen. 
Darunter sieht man in knorrigen Linien, etwa wie Wurzeln, 
liegende Gestalten, die an die Helden erinnern; eines dieser 
Bilder heisst denn auch explizit Wurzeln. 
Durch die Abschaffung des Raumes — von Luft, Atmo- 
sphäre, Himmel, Wolken —wird das Motiv in neuer Schärfe 
dem Bildgrund gegenübergesetzt. Man kennt die konzen- 
trierende, emotionssteigernde Wirkung der Massnahme 
aus der Kunstgeschichte: von Rosso Fiorentino, von Cara- 
vaggio etwa und seinen Nachfolgern oder dem strengen 
Klassizismus; als moderner Künstler kann Baselitz weit 
radikaler vorgehen. Für ihn dürfte das Problem zugleich 
eine autobiographische und eine werkgeschichtliche 
Dringlichkeit haben, da das gegenständliche Motiv in 
seinen ost-realistischen Anfängen wurzelt, während der 
Grund als ornamentales, die Kräfte des leeren Bildvierecks 
primär aktivierendes Element seit der Pulverisierung des 
Gegenstandes im analytischen Kubismus vor allem das 
Arbeitsfeld der westlichen, abstrakten Kunst bildete. Die 
Überlagerung und das Verweben der beiden Prinzipien 
wird schon in den He/den-Bildern virulent und führt zu den 
Puzzles der Frakturbilder, in denen die Motive recht 
gewaltsam in Stücke zerschlagen und zu einem eigenwer- 
tigen Bildmuster zusammengeklittert werden. Durch die 
Umkehrung zeitweilig entschärft, taucht der Antago- 
nismus unter neuen Bedingungen in den späten siebziger 
Jahren wieder auf; zunächst wird er durch das neuartig 
energische, grossformige Pinselwerk, das beide Teile glei- 
cherweise summarisch behandelt und zugleich mit einer 
vagierenden, primär dem Bild und nicht den Gegen- 
ständen zugeordneten fast physisch greifbaren Plastizität 
durchdringt, eher überbrückt. Binnenrahmungen und Ein- 
sprengsel geometrischer Formen, die zugleich Motiv und 
Grund sind, oder, genauer, als Elemente des Grundes 
Motiv-Charakter annehmen, führen zu den abstrakt ortho- 
gonalen Fügungen der Werkgruppe Mann im Bett (1982), in 
deren schwarz-weiss-gelben Bildkonstrukte die Figuren 
nicht ohne Zwang gepresst werden. In dem Gemälde Adieu 
(London) geht die Systematisierung mit einem weiss- 
gelben Schachbrettmuster am weitesten; ein kleines weisses 
in einem der gelben Rechtecke wirkt wie ein Zitat aus 
Mondrians späten Boogie-Woogie-Bildern, auf die sich Base- 
litz auch in Gesprächen gelegentlich bezieht. Im Gegensatz 
zu seinen früheren, kosmisch modellhaften Gemälden mit 
bedeutungsschwer schwarzen, aufragend senkrechten und 
lagernd horizontalen Linien gibt sich hier Mondrian dem 
beschwingten Rhythmus des modernen Tanzes, Ausdruck 
der brodelnden Lebendigkeit der Metropole, hin; sie er- 
innern nicht mehr an Stämme und Äste, sondern an die 
Ebene, in der das Muster der Strassen mit ihrem Verkehr 
liegt. Wie schon der Name deutlich macht, eignet dem 
Schachbrettmuster ein horizontaler Charakter, oder, um 
einen Lieblingsausdruck von Baselitz zu verwenden, sein 
«Normalzustand» ist liegend. Es ist der Normalfall des 
Bodenmusters; seine Anmutungsqualität betont die all- 
seitig gleiche, flache Ausdehnung der Ebene. 
Aufsicht, Flächengliederung, Farbwahl, Assoziationen 
zum rhythmischen Schwingen des Gesellschaftstanzes: 
viele Linien weisen von Boogte-Woogie zu den Volkstänzen 
hin. Unmittelbar vor diesen entstand im Herbst 1988 die 
Ciao America-Serie, ein Gewimmel von Vögeln, häufig gelb/ 
schwarz und mit Gittermustern, in dem zugehörigen 
grossen Holzschnitt von einem Regen von Quadrätchen 
überschneit. Am markantesten erscheint das Schachbrett 
in dem gleichzeitigen Gemälde Schuhe vor dem Fabriktor; 
grün/weiss, grossformig und bildfüllend, erzwingt es die 
Vorstellung einer Sicht von oben auf eine Landschaft. Die 
gleiche Wirkung erzielt das als Hauptmotiv in die Mitte
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.