Volltext: Jahresbericht 1994 (1994)

«AMOR UND PSYCHE» 
EIN WIEDERGEFUNDENES GEMÄLDE FÜSSLIS 
ÜBER DIE RÄTSELHAFTIGKEIT DES TODES 
Pseudo-Morphose nennen die Geologen jene seltsame 
Gestaltbildung, bei der ein Material die Form eines Hohl- 
raumes annimmt, der einst von einem inzwischen ausge- 
waschenen Kristall geformt wurde. Eine solche Pseudo- 
morphose scheint uns, zunächst formal, das faszinierende 
Bild der toten Psyche in Amors Schoss zu sein, das bei den 
Forschungen zu unserer Ausstellung um «Amor und Psy- 
che» auftauchte und in ihr erstmals öffentlich zu sehen 
war; denn es zeigt, ungewöhnlich genug, die sonst zärtliche 
Gruppe der Liebenden in Gestalt des spätmittelalterlichen 
Andachtsbildes der Pietä: der Muttergottes, die ihren vom 
Kreuze abgelösten Sohn beweint. Und die historischen 
Umstände legen uns nahe, das konkrete Vorbild in dem 
merkwürdigen Gemälde Ercole de’ Robertis zu sehen, das 
mit der Sammlung von Füsslis gutem Freund und Mäzen 
William Roscoe in die Walker Art Gallery in Liverpool 
gelangte; Maria erscheint hier in weissem Gewand und 
tief schwarzem Mantel vor einem substanzlos bleichen 
Raum, in dem die Kreuzigungsszene wie eine geisterhafte 
Erinnerung schwebt. Füsslis stets wachsame Kombinatorik 
und sein unüberwindlicher Widerspruchsgeist verkehrt 
nun freilich alles in sein Gegenteil: Geschlecht, Bezie- 
hung, Tod und Leben, Mensch und Gott!. 
Sich der Anschauungsformen der Mineralogie zu 
bedienen, scheint der Goethe-Zeit nicht unangemessen — 
man denke an Caspar David Friedrichs Erdleben-Sym- 
bolik, an Novalis Bergwerkmystik oder an die Wahlver- 
wandtschaflen von Goethe selbst, diesen tiefgründigen, 
von der Todesthematik durchzogenen Roman’. Und wie 
hier die Verbindung und Scheidung der Elemente in die 
Verwirrung der Seelen übertragen werden, wobei das alte 
Sympathie-Denken der Alchimie, das mit der Verwand- 
lung der Stoffe zugleich ein psychisches Wirken meint, 
noch nachklingen mag, so dürfte auch der Vorgang der 
Pseudomorphose ein Modell für den menschlichen 
Gefühlshaushalt abgeben: eine Vorstellung, eine Ge- 
wohnheit bildet sich einen Ort, einen Raum in der Seele; 
zerfällt nun jenes, bleibt eine schmerzliche Lücke, ein 
positives Nichts, eine Leerstelle, die nach neuer Füllung 
verlangt. Man kann sich das ganz banal an dem alltägli- 
chen überflüssigen Komfort und Luxus klar machen, den 
xein Mensch vermisst, bevor er unserer forderungsbewuss- 
ten Konsumgesellschaft angedient wird, und der sogleich 
zum selbstverständlichen Besitzstand wird, auf den zu 
verzichten aber überaus schwer fällt. 
Wohl die gravierendste derartige Lücke, mit der sich 
die abendländische Psyche in der neueren Geistesge- 
schichte auseinandersetzen musste, hinterliess der Abbau 
der religiösen Gewissheit und Jenseitsbindung durch die 
Aufklärung. Die Vertiefung der religiösen Spiritualität, die 
sewusste Aktivierung und Ausdehnung von Geist und 
Seele in der Spannung auf ein Transzendentes bildeten die 
ungeheure Leistung des christlichen Mittelalters; sie 
brachte auch eine Rationalität von neuartiger Schärfe und 
Kohärenz hervor, die bald in Widerspruch zum unreflek- 
;jert geglaubten Religiösen geriet und von diesem bald 
ausgestossen und bekämpft, bald integriert und intensi- 
viert wurde. Als das rationale Element in der Aufklärung 
die Realität der christlichen Dogmen auflöste, entstand 
im geweiteten Seelenraum eine schmerzliche Leerstelle, 
deren Füllung in erneuten religiösen Wellen, wie dem Pie- 
tismus, der Romantik bis hin zu den erstaunlichsten Sek- 
ten, aber auch durch Hingabe, Bindung - nichts anderes 
heisst «religio» - an Kunst, Musik, Landschaftserlebnis, 
Freundschaft, Vaterland versucht wird. Es ist der 
geschichtliche Prozess der Säkularisierung, der aus dem 
«Ewigen» der Kirche ins Zeitliche des «Saeculum», des 
Jahrhunderts, zurückführt, geprägt zunächst für die Rück- 
führung des Eigentums der «Toten Hand», der für das Heil 
der Seelen gestifteten Besitztümer in den irdischen Kreis- 
lauf der Lebenden, kulminierend in der Verstaatlichung 
des Kirchenbesitzes in der Französischen Revolution. 
Auch die bildende Kunst tritt in diese Erbschaft des 
Religiösen ein, dem sie seit eh’ eng verbunden: dies 
bedeutet deren Aufwertung zu einem eigengesetzlich in
	        
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