der neuen Auffassung aufscheinen und erteilt ihr auch
eine Antwort, indem er statt des erlösenden Amors sein
heidnisches Ebenbild, den Tod, mit der Leiche der Psyche
hilflos dasitzen lässt, die er ebensowenig wie Maria den
Sohn Gottes wieder ins Leben zu rufen vermag. Mehrere
verwandte Kompositionen aus den gleichen Jahren
Ugolino mit der Leiche eines Sohnes auf den Knien,
Romeo vor der Bahre Julias, Celadon, in dessen Armen
Amelia vom Blitz erschlagen wird — bestätigen diese
düstere Interpretation??.
Diesem weltanschaulichen Pessimismus entspricht
eine ästhetische Dimension von eigener Ausdrucksmäch-
tigkeit. Ihr Leitbegriff ist das «Erhabene», das dem «Schö-
nen», wie es die euphemistischen Todesdarstellungen
bestimmt, entgegengesetzt ist. Füssli hat dem Unterschied
in einer anderen ikonographischen Umkehrung schlagen-
den Ausdruck verliehen: der antiken Skulptur der Drei
Grazien, wie sie etwa Angelika Kauffmann programma-
tisch auf ihrem Portrait Winckelmanns in Zürich zeigt,
setzt er in ähnlich verschränkter Dreiergruppe kauernde
Mädchen als Darstellung von Furcht, Angst und
Schrecken gegenüber*®. Solche erschütternde Wirkungen
erreicht das Genie, indem es «einen Blick ins Dunkel
wirft», das grenzenlos Überwältigende, das rätselhaft
Unfassbare beschwört. Wie bei einem Andachtsbild stellt
sich dem Betrachter die Gruppe unausweichlich frontal
gegenüber; die mächtigen Schwingen des Gottes füllen
mit ihrem tiefen Schwarz nahezu den ganzen Bildgrund,
ja sie überragen diesen in nicht bestimmbarem Masse: es
gehört zur Wirkungsmacht des Erhabenen, dass es «die
eigene Grenze in eigener Grösse verhüllt» und dass es das
Meiste der Phantasie des Betrachters überlässt — mit Füss-
lis Aphorismen zu sprechen?!. So bleibt auch der Raum
dunklem Ahnen überlassen; selbst die Erde ist kaum zu
erkennen, so dass die bildbestimmenden nach unten wei-
senden Arme, die den Gliederungsrhythmus der Flügel-
ansätze fortführen, zusammen mit dem hängenden und
dem abwärts blickenden Kopf einen düsteren, orts- und
bodenlosen Abgrund evozieren.
Als wichtigstes Bildmittel erscheint hier aber wiederum
das Licht - «chiaroscuro’s magic?» —, das steil und gebün-
delt wie durch einen tiefen Schacht auf den alabasternen
Leib der Psyche fällt und die mächtigen Glieder des
Genius in düsterer Blässe aus dem finstern Grund auf
schimmern lässt. Ein Luftzug streicht aus gleicher Rich-
tung in die Gruft hinab, weht die goldenen Locken dem
Jüngling ins Gesicht und lässt sie seinen melancholischen
Blick zur Entseelten begleiten. Etwas Stimmungshaftes
entsteht, das freilich ebenso weit von barocker Vanitas-
Drohung oder erotischem Sensualismus wie von roman-
tisch weicher Sentimentalität ist; in «heiliger Nüchtern-
heit» erinnert es noch von Ferne an Tizians Dre:
Lebensalter, wo der entblösste Bursche ähnlich am Boden
sitzt und ähnlich von Liebe und Trauer erfüllt zu der frei-
lich von Leben strotzenden Schönen vor seinem Schosse
schaut. War in jenem farbenprächtigen arkadischen
Hymnus die Meditation über Zeugen und Vergehen in
den ewigen Zyklus einer blühenden und absterbenden
Natur eingebettet, so ist sie nun ins Individuelle, Rätsel-
hafte, Unlösbare zugespitzt. Füssli gelang hier eine unver-
gleichlich tiefgründige Gestaltung des Themas, das von
der Nachtseite der Aufklärung über die Romantik bis zum
Symbolismus Musiker, Dichter und Maler zentral
beschäftigte. Statt seine Komplexität durch eine eindeuti-
ge Interpretation zu reduzieren, wollen wir mit Füsslis
Warnung enden: «Approach the sanctuary of mysteries
guided by reason, but remember that its feeble light can
only make darkness visible.»
Christian Klemm
Ein Blick auf «Amor und Psyche» um 1800 (Ausst.Kat. Kunsthaus Zürich 1994)
Nr. 18bis Abb., Text von Paul Lang, Abb. der Pret4 von Ercole de’Roberti. In
der grundlegenden Monographie von Gert Schiff: Johann Heinrich Füssli
(Zürich 1973) unter den verschollenen Werken S. 654, Nr. 75: Ausstellung
Royal Academy 1812, Nr. 89.
Herkunft: William Lock, Norbury, Surrey (?, vgl. Kat. 1994, Anm. 1) - dessen
Schwiegersohn, Joseph Henry Blake, third Baron Wallscourt (1797-1849, hei-
ratet 1822 Elisabeth Lock) — seit ca. 1920 Isle of Wight, Privatsammler — des
sen Erben - 1994 durch Anthony Mould, London, erworben.
Jörn Göres: Goethes Gedanken über den Tod (in: Der Tod in Dichtung, Philosophie
und Kunst [ed. Hans Helmut Jansen, Darmstadt? 1989] S. 267-278).
Jan Bialostocki: Die «Rahmenthemen» und die archetypischen Bilder (in J.B.: Stil
und Ikonographie [Dresden 1966] S. 111-125). ;
‘Donat de Chapeaurouge: Wandel und Konstanz in der Bedeutung entlehnter Motive
(Wiesbaden 1974), ferner Renate Liebewein-Krämer Sähularisierung und Sakra-
Fistierung. Studien zum Bedeutungswandel christlicher Bildformen in der Kunst des
19. Jahrhunderts (Diss. Frankfurt 1977).
Triumph und Tod des Helden (Ausst. Kat. Köln/Zürich 1987) Nr. 103.