Volltext: Jahresbericht 1995 (1995)

glücklich gewählt, dass auch hier diese Absicht deutlich 
wird. Die Energie der Sonne am Mittag sehen wir im Heu- 
haufen und im Dogenpalast, doch während der erstere ihre 
Wirkung im Gegenlicht eines dunstgesättigten Winterta- 
ges zeigt, fällt sie voll auf den über dem reflektierenden 
Wasser schwebenden Palazzo und löst mit der Leuchtkraft 
des Spätsommers seine Südfassade in eine perlmuttern ir! 
sierende Fläche auf. 
Demgegenüber zeigen die beiden Bilder aus London 
Morgen und Abend, das Aufleuchten der ersten Sonnen: 
strahlen auf der Themse, während selbst die Brücke im 
dichten reinen Frühnebel noch kaum zu ahnen ist, 
sodann das Verschwinden des Gestirns in der vom Russ 
und Rauch des Werktags düster erfüllten Atmosphäre hin- 
ter der Silhouette des Parlamentes. Monet war bereits 1870 
während des Deutsch-Französischen Krieges nach Lon 
don ausgewichen und seither von den unwahrscheinli- 
chen, extrem wechselhaften Lichtbrechungen in der ver- 
schmutzten Luft der Industriestadt fasziniert und 
herausgefordert. Der berühmt berüchtigte Smog der vik- 
torianischen Metropolis, der einen grossen Teil der Be 
völkerung zu Lungenkranken machte und in seineı 
undurchdringlichen Dichte gelegentlich den Verkehr 
zusammenbrechen liess, hatte auch seine poetischen und 
malerischen Seiten, die in Monet ihren genialsten Inter- 
preten fanden. Ob die Dreyfuss-Affaire, die nicht nur den 
Antisemitismus der Militärs, sondern die allgemeine kor- 
rupte Verfilzung des französische Systems aufdeckte, 
Monet das lang gehegte Projekt ausführen liess, bleibt 
eine Vermutung; jedenfalls fällt auf, dass die beiden 
Hauptmotive - die Waterloo Bridge und das House of 
Parliament — an eine französische Niederlage und an die 
englische politische Institution, die Frankreich Vorbild 
sein sollte, erinnern.” 
Die Impressionisten betonten stets, dass sie weniger die 
Dinge als die Luft zwischen ihren Augen und den Gegen- 
ständen malen wollten; nicht mehr die klare Fernsicht, 
wie die älteren Landschaftsmaler, sondern Dunst und 
Nebel interessierten sie. Kurz vor seiner ersten Kampagne 
in London studierte Monet das Erwachen des Tages über 
dem ruhenden Wasser eines Seitenarms der Seine in einer 
Folge quadratischer, quasi identischer Kompositionen. 
Langsam zeichnen sich in den fast monochrom grauen, 
unmerklich gegen lila, rosa oder blaugrün gebrochenen 
Schleiern die Schatten der Baumgruppen und ihre sym- 
metrischen Spiegelbilder ab.? Gegenüber diesem reinen, 
sich rasch auflösenden Frühnebel bot die Londoner 
Atmosphäre eine ganz andere Komplexität.” Dutzende 
von angefangenen Leinwänden stapelten sich in dem 
Appartement des Savoy-Hotels, auf denen Monet den 
flüchtigen «effets» nachhastete, die nicht wiederkehren 
wollten — oder bereits wieder vorbei waren, bevor das ent- 
sprechend angefangene Bild gefunden war. Da die «enve- 
loppe» der Dinge besonders im Gegenlicht zur Geltung 
kommt, richtete Monet die Staffeleiı am Morgen nach 
Osten zur Waterloo Bridge; der früheste Moment - Le 
point du jour — lässt die Brücke und die Kamine am ande- 
ren Ufer nur als düstere Schemen in der blaugrünen 
Dämmerung ahnen, in der noch vereinzelt nächtliche 
Lichter matt brennen.!® Hier knüpfte Monet an die subti- 
len Nocturnes seines Freundes Whistlers an, die dieser seit 
den siebziger Jahren malte und mit Titeln wie «Harmony 
in Blue and Silver» versah, In vielen Schichten wie Lack- 
arbeiten aufgebaut, zeigen sich in der glatten, nahezu 
monochromen Fläche die Silhouette einer japanisieren- 
den Brücke, ein paar ferne Lichter oder gar ein Feuerwerk. 
Unser Gemälde, wohl das «abstrakteste» der ganzen Serie, 
erfasst die Stimmung kurz nach Sonnenaufgang; das 
Gestirn selbst ist nicht zu sehen, aber sein leuchtende: 
Reflex auf den Wellen, von dem sich substanzlos die klei- 
nen Segel eines Lastkahns abheben. Der Nebel ist noch 
dichter geworden, morgendlich rein vom Qualm der 
Schiffe und Eisenbahnen, Fabrikschlote und Heizungen. 
So wenig Gegenständliches zu sehen ist, so intensiv 
erscheint die malerische Durcharbeitung. 
Der dramatische Sonnenuntergang mit dem House of 
Parliament evoziert einen anderen englischen Künstler, 
der freilich kurz nach Monets Geburt starb: Turner. Auch 
er arbeitete öfters mit solch düsteren Tönen, aus denen 
kühne Rot und Orange drohend aufleuchten; ebenso ver- 
schmolz er in seinen Spätwerken das Gegenständliche bis 
zum kaum mehr Erkennbaren in farbige Massen. Viel- 
leicht ist ihm Monet nie näher gekommen als hier; gera- 
de deshalb zeigt sich nun die Differenz zwischen den 
romantischen, nach aussen projizierten Visionen Turners 
und den modernen, zwischen Wahrnehmunesstudien
	        
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