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Zunächst verweise ich auf den Artikel 
/!/ in Merz 2, April 1923. Hier aber 
rege ich an, man möchte die Nutz 
anwendung machen, /i/ ist ein mehr 
oder weniger künstlerischer Komplex, 
aus dem durch Begrenzung plötzlich 
ein Kunstwerk entsteht, das durch 
inneren Rhythmus konsequent ist. 
Ich möchte hier anregen, daß man unsere Großstädte nach diesem 
Gesichtspunkte durcharbeiten möchte. Die künstlerische Tat ist 
stets Unterordnen, nie Ueberordnen. Ich begrüße hier den Willen, 
die Stadt einheitlich zu gestalten, etwa wie er in Magdeburg Wirk 
lichkeit wurde, jedoch nur teilweise Wirklichkeit, weil es in sehr 
langer Zeit noch kaum möglich sein wird, auf diese Weise eine 
Großstadt zur Einheit zu bringen, ln Magdeburg hat man einige 
Häuser bunt und stark farbig angestrichen, teils auch Gesimse 
und überflüssige Schnörkel glatt geputzt, möglichst nebeneinander 
stehende Häuser nach anderem Princip übermalt. Ich begrüße 
hier die Tat an sich, kritisiere aber die Ausführung, um daran zu 
lernen, nicht um etwa zu verurteilen. Daß nicht Haus bei Haus, 
ganze Straßenzüge gestrichen werden konnten, ist nicht Schuld 
der Festleitung, aber es wäre doch darauf Rücksicht zu nehmen, 
daß man heute noch auf den Auftraggeber warten muß, um so 
mehr, als die künstlerische Gesamtwirkung nur durch Werten des 
Unwesentlichen gegen das Wesentliche entsteht. Allgemein pflegen 
die öffentlichen Bauten gewisse Mittelpunkte zu sein durch aus 
gewählte Lage, durch detaillierte Gestaltung und durch gutes Material. 
Es wäre nun zu versuchen, diese Mittelpunkte, etwa Rathäuser, 
Kirchen, Markthallen, Bahnhöfe, mit ihrer nächsten Umgebung der 
Straßen dadurch zur künstlerischen Wirkung zu bringen, daß man 
sie hervorhebt, indem man die Wirkung der sie umgebenden Häuser 
herabmindert, und nicht umgekehrt. Dieses ist eine Begrenzung 
im Sinne von /i/, die ein Stadtbild zur Einheit bringen kann ohne 
viel Kosten, ohne viel Zeitaufwand, wenn die ganze Stadt so ge 
wertet wird, wie anfangs die einzelnen Centren. Da verwende man 
graue Farben und einfache neutrale Formen bei den vermittelnden 
Privathäusern. Ueberflüssige Verzierungen können vorteilhafter 
weise abmontiert und evtl, als Streusand verwertet werden. Sollen 
aber irgendwo starke Farben angewandt werden, so ist es zu emp 
fehlen, nur solche Farben zu wählen, die in ihrer Summe einen 
grauen Ton ergeben. An sich ist es zwar gänzlich gleichgültig, 
auf welchen grauen Klang eine Stadt gestimmt werden soll. Aber 
es ist nicht möglich, daß, wie es in Magdeburg erscheint, jedes 
Haus seinen eigenen Klang erstrebt, wenn je eine Einheit erzielt 
werden soll. Ich schlage daher vor, daß wie in Holland nur ein 
bestimmtes Blau, ein bestimmtes Rot und ein bestimmtes Gelb 
gewählt werden unter Ausschluß von Grün, Violett und Orange. 
Mann kann es natürlich auch anders machen, aber zur Entscheidung 
und Auswahl zwingt uns das Streben zur Einheit) wir müssen uns 
entscheiden, weil die Entscheidung an sich gleichgültig ist. Unbedingt 
falsch ist aber bei der Verwendung eines blau-rot-gelben Farb- 
klanges das Grün, wie es in Magdeburg so häufig ist, etwa an 
demselben Hause, an dem blau, rot und gelb gestrichen sind, und 
zwar alles in leuchtenden Farben. Das Grün ist falsch, weil es im 
Widerspruch steht zu der Klarheit der reinen Farben an sich und 
zu dem Prinzip der Unterordnung, die durch /!/ begründet ist. 
Hier wäre noch besonders zu erwähnen, daß ich zwar ursprünglich 
zum Zwecke der Klarheit die Bezeichnung /ä/ erfunden habe, daß 
/!/ aber ein Begriff ist, den alle Kulturen aller Zeiten erstrebt haben. 
Jetzt wäre noch über die Art der Verteilung der bemalten 
Flächen auf den Häusern zu schreiben. Ein durch Oskar Fischer 
bemaltes Haus auf dem breiten Wege in Magdeburg, das Warenhaus 
Barasch, ist zunächst Fassade einer Architektur aus Türen, 
Fenstern und Wandflächen. Türen und Fenster sind gleichmäßig 
angestrichen) die Wandflächen sind durch geschwungene Linien 
und dadurch begrenzte Flächen wie ein kubistisches Bild eingeteilt. 
Eine solche Verwahrung der Architektur ist natürlich unmöglich, 
wenn man auch anerkennen muß, daß der Rhythmus der Bemalung 
ursprünglich von Linien der Architektur ausging. Ebenso falsch 
ist natürlich das Betonen irgend einer häßlichen oder überhaupt 
irgend einer architektonischen Einzelheit durch die Farbe, und es 
ist nicht im Sinne von /i/. Soll schon eine vorhandene Form, 
besonders eine nicht ursprünglich farbig beabsichtigte, nachträglich 
bemalt werden, so kann die Bemalung nur den Zweck haben, diese 
Form zu entformeln, um sie als Material für höhere Formung 
beim Angleichen an eine übergeordnete Gesamtform zu ver 
wenden. Wie man aber ohne Widerspruch zur architektonischen 
Form und ohne sklavische Unterwürfigkeit gegenüber der Architektur 
anstreichen muß, darüber entscheidet die Genialität des Malers 
im einzelnen Falle. Weiß der Maler, was /\/ als neugestaltetes 
Prinzip bedeutet, so kann es sich dabei auch einordnen in die 
Erfordernisse der betreffenden Architektur. Kurt Schwitters. 
DADA COMPLET Nr. 2. 
■ Hier ist zunächst hinzuweisen auf meinen Artikel „dada complet“ 
auf S. 41 in Heft 4. Ich zitiere: „Der konsequente Dadaismus, 
der reine Dadaismus ist absolute Nichtkunst.“ Man kann auch 
sagen abstrakte Nichtkunst oder abstrakte Unkunst. 
L 
Es gibt Leute, die heute behaupten, der Dadaismus wäre tot, 
und zwar nicht die große Masse des Publikums behauptet dies, 
sondern der kleine Kunstgelehrte, der Kunsthändler, Kunstsammler, 
Museumsdirektor, Künstler, und für diese der Kunstkritiker. Nur 
der große Kunstgelehrte, der Kunstphiliosoph, weiß, daß dada nie 
sterben kann. Was ist nun aber abstrakte Unkunst, was bedeutet 
tot beim Dadaismus, warum ist der Dadaismus nicht tot, sondern 
lebendig? Bevor ich all diese Fragen beantworte, drucke ich einen 
offenen Brief an Herrn Kobbe ab. 
TRAN 50. Herrn F. C. Kobbe, ßraunschweig, Landeszeitung, 
(anläßlich meiner Merznachtvorstellung im Braunschweiger Ope 
rettenhaus am 26.1.24.) Sehr geehrter Herr Kobbe! Erlauben 
Sie mir, Sie auf einen grundlegenden Irrtum aufmerksam zu machen. 
Sie bezeichnen in Ihrer Kritik den Dadaismus als eine Gefahr, die 
man nicht unterschätzen sollte. Würden Sie auch die Diagnose 
des Arztes bei einer schweren Krankheit als eine Gefahr bezeichnen, 
die man nicht unterschätzen sollte? Wofür Gefahr? Für die 
Krankheit? Also: ein nicht zu unterschätzendes Heilmittel für den 
Patienten. Unsere Generation ist schwer krank. Sie z. B auch. 
Dada stellt die Diagnose, Dada ist ein nicht zu unterschätzendes 
Heilmittel für unsere schwer kranke Generation. Wollen Sie sich 
dazu bitte äußern? 
Sie sehen hier eine Neuerung: der Accent bei dada. Und dieser 
Accent ist so wichtig, daß ich wohl darüber länger schreiben darf. 
Ich habe seit dem 30. Dezember 1923 den Accent bei dem Worte 
dada eingeführt. Man kann nun schreiben dada, dada oder dadä. 
Im ersten Falle ruht der Ton auf der ersten, im letzten auf der 
letzten Silbe, im zweiten Falle ist jede Silbe gleichmäßig betont. 
Sie sehen den Zweck nicht ein? Bitte sprechen Sie es aus: dada 
klingt sächsisch, trivial) dadä klingt französisch, etwa wie Berlin, 
eben Elan oder Weltstadt) dada dagegen klingt indifferent, wie 
jemand, der nicht weiß, was er will. Und nun der Beweis. Auf 
unseren Abenden rief uns die, verzeihen Sie, blöde Masse des 
Publikums „däda“ zu. Sie glauben es nämlich gar nicht, wie blöde 
solch eine Masse Publikum unter Umständen sein kann. Bei den 
tragischsten Stellen in Shakespeares Dramen habe ich das Publikum 
lachen hören, als ob sie in einer dadä-Vorstellung säßen. D. h. 
man glaube nicht, daß bei dadä das Lachen etwa angebrachter 
wäre: dadä ist der sittliche Ernst unserer Zeit. Und das Publikum 
platzt vor Lachen. Wie bei Shakespeare. Die Kunstkritik hat stets 
nur „dada“ geschrieben, ohne Accent, um dadurch zu beweisen, 
daß sie gegenüber dadä ebenso indifferent ist, wie gegenüber der 
Kunst. Dadä aber ist der Kampfruf der Dadaisten stets gewesen. 
Schon die ersten Menschen, die bewußt den Begriff des Wortes 
DADA in ihr Tun einführten, die Gründer des Dadaismus in 
Zürich: Arp, Hülsenbeck, Tzara, nannten das Wort „dadä“, indem 
sie richtig den Elan erkannten, der in dieser Betonung liegt. Und 
als der große Hülsenbeck dadä in Deutschland einführte, legte er 
großen Wert auf diese Betonung: „dadä“. Neu ist nur die officielle 
Einführung des Accentes durch mich zum Zwecke der Klärung, 
ln Merz 1, S. 5 heißt es: „Unsere Zeit heißt däda, wir leben im 
Dadazeitalter. Wir erleben im Zeitalter däda, nichts ist für unsere 
Zeit so charakteristisch, wie däda. Denn unsere Kultur ist däda“ 
und: „Dadä ist das Bekenntnis zur Stillosigkeit Dadä ist der Stil 
unserer Zeit.“ Sie lesen am besten den ganzen Artikel mit Ein 
fügung der Accente noch einmal durch. Ich wiederhole nur kurz: 
däda ist das Gesicht unserer Zeit, dadä ist die Bewegung, die 
sich zum Ziel gesetzt hat, die Zeit zu heilen, indem sie die Diagnose 
stellt. Daher ist dadä ein nicht zu unterschätzendes Heilmittel für 
das däda-Zeitalter, daher sieht der bürgerliche, total indifferente 
dada-Kritiker in dadä eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Der 
Krankheitsbacillus sieht in der Diagnose des Arztes, wenn sie 
richtig war, auch eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Und nun 
dürfen wir Dadäs uns schmeicheln, daß nach Kobbe unsere Diag 
nose richtig war. Hätten wir des Beweises noch bedurft, so hätte 
ihn uns jener Mann erbracht, der auf der eben schon erwähnten 
Merz-Nachtvorstellung während der Revolution den Saal polternd 
verließ, indem er sich dabei in rührender Selbsterkenntnis mit der 
Hand vor den Kopf schlug, unter allgemeinem Beifall des Publikums) 
der Mann hatte nämlich plötzlich erkannt, daß er total verrückt 
war und im Schmerz über diese Erkenntnis hatte er den Saal 
verlassen. Einige Leute riefen ihm „däda“ nach. Hierzu ein fran 
zösisches Sprichwort: „II n’y a pas de sots metiers, il n’y a que 
de sottes gens.“ 
Hiermit beantwortet sich die Frage, ob der Dadaismus tot wäre, 
von selbst. Wenn jemand solche Wirkungen ausüben kann, wie 
dadä z. B. bei jener Nachtvorstellung am 26.1. 24 in Braunschweig, 
oder wie bald hier, bald da, so lebt der Jemand. Aber das große 
Publikum glaubt es auch gar nicht, daß dadä tot wäre, eine Toten 
klage würde nie so lärmend sein, wie die Aeußerungen des Publi 
kums. Die Totsager des Dadaismus sind Kritik und Künstler, 
Museumsdirektor, Kunstsammler, Kunsthändler und der kleine 
Kunstgelehrte. Sie sehen, wie durchsichtig solch ein Maneuvre 
ist. Der Wunsch ist hier der Vater des Gedankens. Mit eben 
soviel Recht könnten wir die Kunst totsagen, oder die Kunstkritik. 
Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich nicht in die Hölle komm. 
Nun meinen unsere Gegner spitzfindig, der dadä wäre tot, weil 
man ihn durch die strenge Kunst überwunden habe. Sie irren sich, 
liebe Totsager, haben Sie ihn etwa überwunden? Sind Sie jemals 
dadä gewesen? Man kann nicht einen Zustand überwunden haben,
	        
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