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Des Menschen Flügel sind die Augenlider. Ein Aufschlag,
und der Tag wird erflogen, ein Zusammenfalten, und die Nacht
ist erbeten. Mit einem Blick überwältigst du die Sonne, doch
schlag die Augen nieder, und du wirst durch deine Einschau
unsre Unterwelten weiterfahndend unterfliegen.
Doch Seele, wehe dir, wenn du dich, hier als Mensch ver
leiblicht, nicht beruhigst. Du seilst aus Freiheit einst dein
Sterneneigentum besiegen. Der Stern ist deine Leibesfrucht: die
Freiheit wird zur Pflicht. Du wirst einmal aus vollster Wahr
heit sein, drum wurdest du vorläufig ein Mund, doch lerne vor
allem, gut zu schweigen. Die Ohren kriegst du, um vieles zu
vernehmen, doch fass dich selbst dabei, damit du plötzlich keine
Fremdheit mehr hörst. Du wälzest das Ich: du hast daher den
Leib, um dich zu. dir zurückzutasten. Die Nasenflügel stehn offen,
sie sollen den Flug der Blumen in die Sternenwege einwiegen.
Der Blick, der dich bejaht, der deine Allheit einnimmt, sagt: es
ist um mich geschehen.
Theodor Däubler
In mondblauem Nebel bleicht die Nacht.
Die Kessel der Geschicke braun.
Die Tränenbäume tropfen und taun. . .
Was wird mir zugelost und zugedacht?
Die hohen Fenster stehn beraucht und blind
Wie Augen von Marmorbildern sind . . .
Das Schicksal! 0, was will dein steinern Schaun ?
Wie schwärmen die Geiser im mondlichen Rauch
Mit weissen Schleiern feucht davon . . .
0, tote Mutter, sähst du deinen Sohn!
Es schmölze über mir ein Regenbogenhauch . . .
Auch du kamst hoch herab von deinem Gletscherring. . .
Die Welt ist aufgelöst . . . Das grosse Thing
Der Wolken wogt und Gott vermengt den Stoff zu neuem Ton.
Hast du nur Gutes, Herz, gepocht?
Schleier des Segens ausgeteilt?
Gebet, das in die Ferne heilt,
Dem Chaos zugehaucht, das draussen kocht?
Ganz dich verstrahlen: wars dein Traum?
O dann wird überströmen der dampfende Raum . . .
Geister, gesendet von Liebe, kommen auf Flügeln geeilt.