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lichtspielhaus. Doch neben der Schaulust, die er bis über jene
Grenzen hinaus befriedigte, wo sie nach Blut und letzten Gräueln
gierig ist, lieferte er ein Spiel, das nicht mehr den Schein eines
Lebens, das nur vorgetäuscht wurde, erwecken wollte, sondern
den, der das Leben nicht einmal mehr war, projizierte. Und wie
stets, wenn das Gegensätzliche am weitesten auseinander tritt,
es einander wieder näher kommt, so wurde der Kino, indem er
stumm blieb, für jene Allzuwenigen, denen wieder alles über
lassen blieb, zum Bilderbuch. Wohin aber war das Leben ent
flohen? Wohin eine Menschheit, die nach dem Wort das Leben
verloren hatte und, als sie dessen Schein nicht einmal mehr für
das Leben nahm, selbst diesen?
Soweit sie Herrn Franz Blei zum Wegweiser sich erkor,
in die Sternheimsche Komödie. Denn von dieser behauptet jener
Herr, dass sie das Leben nicht mit dem „modernen" Leben ver
wechsle, sondern diesem auch ein Teil des Lebens gebe, es
ganz nur als dessen Schein und Zweck sehe. Müsste nicht an
genommen werden, dass Herr Sternheim diese Interpretation vor
ihrer Veröffentlichung richtig geheissen hat, so könnte eine
heftig berichtigende Verwahrung erwartet werden. Denn Herr
Sternheim könnte immerhin das Drama der Schauspielerei, die
Komödie von gestern, haben schreiben wollen. Da er aber doch
wohl die von heute hätte geschrieben haben wollen, wäre sie es
allerdings gleichfalls nicht geworden. Wie nämlich Herr Blei
mitteilt, hat Herr Sternheim „kurz gesagt, in diesem modernen
Leben keinen Standpunkt" und definiert das Bürgerlich-Moderne
bloss. Zu diesem Zweck lässt er, wie Herr Blei weiterhin mit
teilt, die Personen seiner Komödien nach seinem grammatischen
Willen sprechen, und ist mit Herrn Blei wohl der Meinung, dass
„die Sachlichkeit dieses Redens bei faktischer Unwirklichkeit
des Geredeten dieser Scheinwelt die dichterische Realität gibt.“
Daraus geht hervor, dass Herr Sternheim die Komödie von
gestern, welche das „moderne“ Leben zwar als Schein und
Zweck des Lebens sah, aber auch so erlebte und gestaltete,
nicht geschrieben hat. Hätte er sie geschrieben, so hätte er dem
„modernen“ Leben gegenüber den Standpunkt haben müssen,
dass es nur der Schein und der Zweck des Lebens sei, und
hätte es so erlebt und gestaltet. Da er aber, kurz gesagt,
keinen Standpunkt hatte, das „moderne" Leben bloss definierte,
es also nicht erleben und gestalten konnte, Hess er die Personen
seiner Komödien nach seinem grammatischen Willen sprechen
und gab durch die Sachlichkeit dieses Redens bei faktischer
Unwirklichkeit des Geredeten dieser Scheinwelt nicht dichterische
Realität, sondern eine noch nie dagewesene undichterische.
Deshalb konnte Herr Sternheim auch nicht die Komödie von
heute schreiben. Hätte er sie geschrieben, so hätte er ihr dich-