ORGAN
Eine Zeitschrift hat heute gar keinen lebendigen Sinn. Sie ist ein
Konversationsmittel geworden, wie es vor hundert Jahren das Lexikon war.
Zeitvertreib mit Betrachtung.
Aber Geschriebenes, Gezeichnetes, Gedrucktes hat nur noch Wert, wenn
seine Formulierung äußerste Notwendigkeit ist; wenn es so notwendig ist,
daß es aufreizend wirkt durch den Mut zum Schlagwort; wenn seinem Ur
heber die Hingabe so wichtig ist, daß er auch vor der Einfachheit der Platitüde
nicht zurückschreckt. Also das Gegenteil von Bibliophilie.
Eine Zeitschrift hat auch im besten Fall noch das Unglück, leicht
bibliophilen Charakter zu tragen, immer noch nicht unmittelbar zu sein.
Dies eingestanden.
Aber gerade der Inhalt, der Wert, das Geistige, das Wort, das die
Menschen vor die Entscheidung zur Unbedingtheit stellt, muß auf die
unmittelbarste, direkteste Art unter die Menschen gebracht werden. Das
Ideal ist: das Flugblatt, der bibliothekarisch ganz wertlose Wisch, der ein
fache bedruckte Fetzen Papier, den man in die Tasche stopft. Oder man
wirft ihn weg, und nur darauf kommt es an, daß man ihn nie wieder ver
gessen kann, wenn man einen Blick auf ihn warf: so tief hat er getroffen.
Eine Zeitschrift wird oft ein Organ genannt. Aber die einzige, die
allereinzige Existenzberechtigung? die eine Zeitschrift heute noch haben
kann, ist, daß sie ein Organ ist. Ein wirkliches Organ, unsymbolisch gemeint.
Ein Organ wie Kopf, Augen, Mund, Arme, Beine des Menschen, eine Fort
setzung und Erweiterung der menschlichen Glieder bis zur lebendigen
Berührung des andern Menschen.
Eine Zeitschrift ist nicht zur Erkenntnis da. Nicht zur Betrachtung,
nicht zum Genuß. Sie ist auch keine Tribüne, an der Meinungen zur
Diskussion gestellt werden. Sie hat Lebensrecht nur, wenn sie Bewegung,
Griff und Darreichung dieser letzten, unbedingten und verzweifelten
Menschen ist, die bereit sind, ihre Person völlig mit ihrer Sache zu identi
fizieren; die ihr Ziel des Geistes mit jedem Mittel ihres Körpers durch
setzen wollen; denen Reden, Handeln, Schreiben keinen Unterschied be
deutet, sondern bloße verschiedene Äußerungsformen der menschlichen
Liebestätigkeit. Und die zuletzt gedruckt werden, nicht um des Veröffent-
lichens willen, sondern nur weil sie so gleichzeitig zu mehr und verschie
deneren Menschen gelangen, als allein durch die gesprochenen Worte im
kleinen Zimmer.