Volltext: Der Ararat : Glossen, Skizzen und Notizen zur Neuen Kunst (1(1920),11/12)

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rosa Epoche. Ja besonders Feinfühlige unter 
scheiden noch einige Unter ^Epochen so z. B. inner 
halb der blauen Peri ode die Epoche der Raben 
und die Epoche der großen Bettler. Die letzte 
Wandlung des Künstlers fällt in die Kriegszeit. Pi 
casso hat den Pinsel weggelegt und zum Zeichen 
stift gegriffen. So entstanden in den letzten 4 bis 
5 Jahren eine Reihe von Zeichnungen, deren Stil 
man sehr äußerlich als »Ingrismus« charakterisiert. 
Der Übergang von Kubismus zu einem klassizisti 
schen Realismus scheint unvermittelt zu sein. Aber 
dem Tieferblickenden wird es nicht entgehen, daß in 
dem französischen Kubismus klassizistische Form 
elemente bereits latent sind. Darüber wird in einem 
anderen Zusammenhang noch zu sprechen sein. 
Die Zeichnungen Picassos, die wir im »Ararat« 
veröffentlichen, gehören der letzten Stilrichtung an. 
Wir entnehmen sie der Revue »L'Esprit Nouveau«. 
Urbanisten und Passeisten. 
Der berühmte amerikanische Städtearchitekt M. 
Ford, dem die Franzosen den Plan des Aufbaues der 
Reimser Kathedrale anvertraut hatten, ist plötzlich in 
seine Heimat zurückgekehrt — angeblich weil ihn 
dort große und unaufschiebbare Aufgaben erwarten. 
Zu seinem Nachfolger wurde der französische Archi 
tekt M. Abeier ernannt, was alle »Patrioten«, denen 
die Verwendung eines Ausländers für eine so rein 
nationale Angelegenheit, wie die Rekonstruktion der 
Reimser Kathedrale, schon lange ein Dorn im Auge 
war, mit unverhohlener Zufriedenheit erfüllt. Daß die 
Demission Fords ein Erfolg nationalistischer Quer= 
treibereien ist, wissen alle Eingeweihten. M. Ford 
wurde aber nicht nur als Amerikaner, sondern auch 
als Haupt des sogen. »Urbanismus«, d. i. der mo-- 
dernen rationellen Stadtbaukunst bekämpft. Man 
begreift, daß der Städtebau für Frankreich nach diesem 
Kriege, der eine Unzahl von. Siedlungen der nörd= 
liehen Departements zerstört hat, das aktuellste Ar= 
chitektur^Problem sein muß. Und es ist fast selbst^ 
verständlich, daß sich in dieser wichtigen Frage zwei 
Parteien schroff gegenüberstehen: eine reaktionäre, 
die sogen. Passeisten, die sich mit den Archäologen 
verbündet haben und eine stilgerechte Wiederher^ 
Stellung des historischen Status quo ante verlangen, 
und eine fortschrittliche, die sogen. Urbanisten, die 
mehr den praktischen Prinzipien der amerikanischen 
Stadtbaukunst huldigen. Daß aber auch ihre Ten= 
denzen der historischen Pietät Rechnung tragen, geht 
aus einer Instruktion hervor, die dem Minister für 
die befreiten Gebiete von den Urbanisten unterbreitet 
wurde. Auch sie treten hier für die Wahrung des 
ursprünglichen Charakters und der historischen Züge 
der jeweils aufzubauenden Stadt ein, aber sie be^ 
gnügen sich nicht damit, nur rückwärts zu schauen, 
sondern sie bedenken auch die Zukunft. »Der Ur 
banismus«, sagt Leandre Vaillart — »ist die Kunst 
vorauszusehen, was eine Stadt in 10, in20, jn 50 Jahren 
sein wird«. 
HOLLAND. 
Neues von Lodewijk Schelfhout. 
Der Holländer Lodewijk Schelfhout, um den es in 
den letzten Jahren ein wenig stumm geworden war, 
hat 1919 eine mehrmonatige Reise nach Korsika 
unternommen, von der er im August 1920 nach HoL 
land mit einer reichen Ausbeute neuer Arbeiten zu= 
rückkehrte. Auch diesmal half ihm der Süden und 
das Lateinertum aus einer Art Erstarrung, in die im 
nördlichen Holland scheinbar ein jeder Künstler fällt, 
der seine Phantasie zum Angelpunkte seiner Mal 
weise macht. Wer nicht genug hat an den malerischen 
Gegebenheiten dieses Landes, wer diese Kühe auf 
grüner Weide, die von Möven überflogenen Meeres^ 
wellen, diese Windmühlentürme an langgezogenen 
Wasserkanälen gar etwas abgenutzt, von zu viel 
Maleraugen gleichsam aufgezehrt empfindet und in 
die Schau der inneren Welt flüchtet, der gerät offen= 
kundig bald an einen toten Punkt, wo der Künstler 
sich wohl technisch weiter entwickelt aber geistig matt 
wird. So ergeht es vielen der holländischen Express 
sionisten und darum entweicht jeder alle paar Jahre sei 
es nach Südfrankreich, nach Spanien oder nach Afrika. 
Schelfhout suchte die Einsamkeit und Kulturferne 
Korsikas auf und nahm dort beides, die Landschaft 
und die menschliche Figur aufs Korn. Aber sein 
Gestaltungsprinzip ist nicht mehr wie früher dem 
Kubistischen angenähert, sondern hält sich Vorzugs^ 
weise an eine weiche, gesangliche Wiedergabe der 
Realumrisse. Seine Technik ist die der Waschzeich^ 
nung. Gegenwärtig radiert er — nach der Erinne^ 
rung — mit der kalten Nadel die ihn noch erfüllenden 
Korsikaner Eindrücke auf Zinkplatten, von der jedes^ 
mal etwa acht Abdrücke hergestellt werden. Viele 
der Arbeiten aus den Jahren 1914—1918 hat er bei 
seiner Rückkunft aus Korsika zerstört. In Amsterdam 
hält er soeben eine Gesamtschau seiner letztherge^ 
stellten Werke ab. Dr. H.
	        
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