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DER UNSITTLICHE ARARAT.
Das Schöffengericht München hat am 3. November 1920 einen vom Amtsrichter Wiedemann
und Gerichtsschreiber Aufschläger Unterzeichneten Strafbefehl an mich geschickt. In diesem Schrift*
stück heißt es:
»Nach einer polizeilichen Anzeige sollen Sie die Nummer 7 der Zeitschrift „Der Ararat" vom April 1920 die auf
Seite 64 die Wiedergabe einer Radierung von J. Eberz (mit der Darstellung einer dem Beschauer den
Geschlechtsteil weisenden nackten Frau und eines imBegriffe denBeischlaf an ihrzuvollziehen
stehendenMannes) enthält, also eine das allgemeine S<ham-= und Sittlichkeitsgefühl verletzende Darstellung zum
Zwecke der Verbreitung vorrätig gehalten haben, und sich dadurch gegen die Vorschriften des § 184 Z.L RStGR.
verfehlt haben.«
Es wurde mir zur Wahl gestellt, ob ich einen zehntägigen Arrest oder eine Geldstrafe von
100 Mk. vorzöge. Ich übersandte dem Schöffengericht 100 Mk. Honorar für seinen Ararat*
Beitrag. Zu der Urteilsbegründung möchte ich nur folgendes bemerken;
Wer die inkriminierte Radierung J. Eberz kennt (ihre nochmalige Abbildung würde mir als Rück*
fälligkeit ausgelegt werden) wird zugeben müssen, daß die richterliche Bildinterpretation dort, wo
sie von den Absichten des Mannes spricht, den objektiven Tatbestand übergreift und einer ein*
deutig orientierten Phantasie freies Spiel läßt. Es wäre wohl möglich, daß ein moralisch weniger
empfindlicher Beschauer Haltung und Gebärde des Mannes unverfänglicher deutet, als es der
Strafbefehl tut. Ich gebe dem Amtsrichter noch zu bedenken, zu welchen Ergebnissen man käme,
wenn man seine Interpretationsmethode auf gewisse Bilder der alten oder der neuen Pinakothek
anzuwenden versuchte. Niemand, der z. B. die Rubens*»Schäferszene« in der alten Pinakothek
kennt, wird bestreiten wollen, daß man vor diesem Bilde mit ungleich größerer Berechtigung zu
denselben Schlußfolgerungen gelangen könnte, wie vor der Radierung J. Eberz. Zum Beweise
dieser Behauptung wage ich es, eine photographische Wiedergabe des Gemäldes im »Ararat« zu
reproduzieren — allerdings auf die Gefahr hin, dadurch wiederum gegen den § 184 Z.L RStGR.
zu verstoßen.
München, im November 1920. HANS GOLTZ.