Volltext: 1914-1916 (1914-1916)

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JCe ist mir, als habe der Staat zwei Gesichter, vielmehr, als 
habe er feit dem Beginn dieser Ereignisse ein neues bekommen, 
wahrend er bis dahin mit dem anderen finsteren und, um es gleich 
zu sagen, unrichtigen Gesicht uns immer mehr geärgert als geschreckt, 
keinesfalls aber erfreut hat. Wenn ich früher an den Sinn des 
Staates für mich dachte, — wie kam es, daß mir dann als Symbol 
jedesmal nur die Straßenbeleuchtung zur Nachtzeit nebst ermüdet 
umherschauenden Wachleuten einfiel und daß ich etwa glaubte, mit 
einer kleinen privaten Taschenlaterne könne dieser Sinn ebensogut 
erfüllt werden? Warum war das Gesicht des Staates, das mir 
zuweilen erschien, ein so wohlbekanntes und widriges Mischmasch, 
dessen einzelne Bestandteile ungefähr sich darboten: als Grimassen 
verdrießlich und trotz ihres Halbschlafes sehr streng prüfender 
Professoren bei einem der zahlreichen Staatsexamina, als Miene 
jenes Ministerial-Hofrates, der sich vor lauter Wohlwollen und 
Unbefangenheit sogar auf die Ecke der Tischfiache setzte, ganz wie 
ein alter Ramerad, als er mir die heillos abschlägige Antwort gab? 
Ja, der Staat hatte sich immer hochmütig und herrisch gegen uns 
verhalten, und so behandelte auch ich ihn wie etwas, an das man 
lieber nicht denkt. 
Nun aber kam die Zeit, in der man an nichts anderes denken 
kann und mag als an diesen kühlen, unfreundlichen Staat. Aber 
nein, welches Wunder! Der Staat war ja nicht mehr unfreundlich, 
er begann ja mich anzureden, zu bitten, zu ermahnen, Ln jeder 
Zeitung, an jeder Straßenecke, er begann, mir sein neues schönes 
Gesicht zu zeigen, er stellte seine Befehle ein, die man fremd be 
folgt hatte, und gab andere Befehle, aus denen es herausklang: 
Du, Mensch, und ich, Staat, wir sind ja beide dasselbe, — ge 
horche mir nicht widerwillig, sondern wisse, daß ich alles, was 
ich tue, nur für dich und deine Ehre und deine Seele tue... 
Das war die große Verwandlung: Der Staat begann, seine Bürger 
zu lieben, oder vielmehr, er hatte sie immer geliebt und sein Dasein 
war, richtig aufgefaßt, nie etwas anderes gewesen als diese -Liebe, 
aber jetzt erst zeigte und sagte er dies auch, und die törichten 
Bürger, die ihn bisher mißverstanden hatten, sie liebten nun auch
	        
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