Volltext: 1914-1916 (1914-1916)

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Lettres Intimes 
^3oit Stendhal. Wirklich intime Briefe, unmaskierte, in denen er, der selbst noch 
ganz junge, sich der jüngeren Schwester vertraut. Alan liest sie» wie jetzt jo leicht 
alles „Zeindliche", auf das Lgpische, auf das Zranzösifche hin. 
Lins geht durch sie durch. Zwischen leidenschaftlichem Genießen und leiden 
schaftlichem Schmerze, zwischen der Leidenschaft des Erkeunens und der Weltver 
achtung bleibt immer das eine Ziel: sich eine Position zu sichern, sich und seiner 
Schwester. Und da für eine Zrau nur eine Möglichkeit ist, will er ihr eine Heirat 
verschaffen, eine reiche Heirat. Gr liebt sie sehr, weint über ihren Briefen, 
verzweifelt, wenn sie nicht schreibt. Und setzt ihr immer wieder zu: Rur sich nicht 
verlieben, nur sich nicht wegwerfen, nur das Ziel im Auge behalten, sich zusammen 
nehmen, heucheln, Komödie spielen, bis man festen Grund unter den Züßen hat. 
Und dann dem — notwendig ungeliebten — Gatten gegenüber dasselbe Spiel: 
man muß seine Schwäche studieren, Bewunderung vortäuschen, herrschen durch 
scheinbares Nachgeben, um so — endlich» endlich — Herrin seiner selbst zu werden. 
Herrin auch in der Gesellschaft. Der so rät, ist nicht nur jung und sehr leiden 
schaftlich, er nennt auch die Sahre seine glücklichsten, in denen er in Paris kein 
Geld hatte, seine Schuhe zu besohlen, und er verachtet die Menschen. Aber diesem 
selben ist ein Lag der schönste seines Lebens, weil er in Gesellschaft dreieinhalb 
Stunden lang glänzte — une conduite au dessus do l’humain —, so glänzte, 
daß Zraueu, die er beleidigt hatte, ihn, den Häßlichen, schön neunen mußten. 
Sie kommen anders auf die Welt als wir. Sehender, klüger, wissender. 
Sie kommen älter auf die Welt als wir. Als ob sie Abgründe und Gefahren des 
Lebens vorher sähen, Menschen vorher durchschauten. Und da sie, die Klugen und 
Zeinen, nun doch nicht leben können ohne Menschen, ohne die Gesellschaft, da ihr 
Ehrgeiz die Bewunderung braucht, das Sichzeigen, das Einflußausüben, so erwächst aus 
ihnen der französische, der Stendhalsche oder der Balzacsche Held, der das Leben zum 
Kampfe stellt, wer der Stärkere ist: „ä nous deux maintenant"; oder es wächst 
daraus die Zlaubertsche Entsagung, die nur noch beobachtet und prüft, und dann 
im Nachbilden und im Spott den Ekel über diese jämmerliche Welt überwindet. 
Aber immer (auch bei den Kleineren) ist das Erkennen da und sein bitterer Nach 
geschmack. 
Wie sehr jung sind wir durchgängig noch dagegen. Wie leicht getäuscht 
und unbewußt der Gefahr. Wie ein Kind, das sich vom Lisch wirft, weil es noch 
nie gefallen ist, und das Laufen versucht, weil's sich noch nicht gestoßen hat. Wir 
werden uns oft noch stoßen, was schadet es, wenn wir nur laufen lernen» und daran 
uns halten, daß alle steilsten Wege schlafwandelnd überwunden werden. Setzen 
wir also ruhig die Bitte des alten Raabe in unser Vaterunser: „Unsere tägliche 
Selbsttäuschung gib uns heute!" 
Eins freilich gibt es, was noch darüber geht: Erkennen und lieben» das 
Bittre austrinken und doch im Mitleid überwinden. Aber das ist der Weg der 
Heiligen. Zriedrich Mark
	        
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