Volltext: 1914-1916 (1914-1916)

Das Christentum, unter dem hier nicht fo sehr die Evangelien, als 
die spätere pauliuifche, patrifiische, europäische Entwicklung begriffen ist, sucht sein 
Sdeal auf dem Wege der vollständigen Verneinung aller natürlichen Erlebe, bildet 
also die äußerste Negation des Heidentums. Me Erlebe find „sündhaft", stud der 
„alte Adam", der ausgezogen werden muß, stud die „Erbsünde", die nach einer kirch 
lichen Autorität wie Bellarmiu im Verluste unserer übernatürlichen» daß heißt, also 
geistig-freien A< tur besteht (ex sola doni supernaturalis ob Adae peccatum 
amissione). „Der Leim, aus dem wir gebildet worden» ist verdammlich", er 
klärt Luther» und Calvin druckt es am schärfsten ans: Ex corrupta hominis natura 
nihil nisi damnabile prodire. — Das Erreichen einer höheren Welt ist daher 
nach übereinstimmender christlicher Austcht nur durch ein Wunder möglich (Guadeu- 
wahl» gratia praeveniens), wobei der Streit zwischen den Protestanten und 
der mildesten katholischen» etwa von Alochler formulierten Austcht nur darin 
besteht, ob die guten Werke, der Glaube und die Liebe (fides formata) neben 
dem Verdienst Christi ganz unnütz, ja schädlich, oder demutsvolle Nebensache stud. 
Das Konzil von Erieut hat ausdrücklich die Rechtfertigung als eine „unver 
diente" (gratis) festgelegt. „Gratis autem justificari ideo dicamur, quia 
nihil eornm, quae justificationem praedennt, sive fides, sive opera, 
ipsam justificationis gratiam promeretur.“ — So hat das Christen 
tum die radikalste Scheidung der stuulicheu von der übersinnlichen Welt 
vollzogen. Keine Brücke führt hinüber, nur der Opfertod Christi, durch den der 
Alenfch als durch eiu Wunder Erlösung empfängt. Der Schauplatz dieses Wunders 
ist die Seele des Einzelnen» das Sudividuum wird hiedurch zum Hebel des Welt 
alls eingesetzt. Die Gemeinschaft erscheint ins Spirituelle gerückt» eine Kirche 
der Geister und nicht der Leiber. Eine andere Organisation als diese, andere 
Heilmittel als diese werden für gleichgültig, ja irreal gehalten. Die Vernünftig 
keit als Instrument jeder solchen Organisation von Aleusch zu Mensch verliert 
neben dem alleiuherrscheudeu Gefühl jeden Wert. „Sorget nicht für den morgigen 
Lag". „Mein Reich ist nicht von dieser Welt". — Das isolierte Individuum» 
der „Mönch" und der „Heilige" stud Lgpeu dieses Ethos. 
Es kaun hier nur ganz oberflächlich angedeutet werden (ich führe alle 
diese Muge au anderer Stelle ans), inwiefern es für das Sude nt um charak 
teristisch ist, allem Materiellen «neu geistigen Sin« zuzuerkennen und mit dem 
Geiste zu durchdringen. Während das Christentum in der Auslöfchuug, Ver 
nichtung» Verneinung der stchtbareu Welt den Weg zum Geist sucht, will und muß 
das Sudeutllm durch diese stchtbare Welt mitten hindurch, um ste zu heiligen. Me 
stchtbare Welt ist als Basts der geistigen (und nur als diese) wichtig, weshalb 
auch alle materiellen Verhältniße sorgfältig beachtet, durchdacht und durchfühlt 
werden sollen. Niemals wird von ihnen einfach abgesehen. Diese Erleichterung 
erscheint hier uustttlich. Zur Bezwingung der schweren Aufgabe bedarf der Mensch 
aller Kräfte, des Gefühls, aber auch der Vernunft, die nie aus 
geschaltet, sondern in Lguthese mit dem überschwenglichsten innigsten Gottesgefuhl 
gebracht wird, am großartigsten im Riesenwerk des Talmud mit seiner undurch 
dringliche« Verflechtung von Halacha (Gesetz) und Hagada (gefühlsmäßige Poesie). — 
überhaupt ist natürlich nicht das heutige Sudeutum der Suden, das (mit nicht 
IW
	        
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