gedrucktem Text zu umgeben. Füssli jedoch
monumentalisiert die Figur, indem er die Linien
verstärkt und das Nachvornfallen der Haare sowie
das Kreuzen der Arme und Beine betont, wodurch
eine Statuenhaftigkeit entsteht, die an Michelangelo
arinnert. Vermutlich schwebte beiden Malern die
Kunst Michelangelos vor, als sie daran gingen, die
Form zu schaffen, welche zum Gemälde « Das
Schweigen» führen sollte. Gewisse Ähnlichkeiten
lassen sich feststellen zwischen dieser Figur und
denjenigen von Jeremias und Jesse an der Decke
der Sixtinischen Kapelle!!. Blake bediente sich
dieser Figur auch in anderem Zusammenhang,
zum Beispiel in der Illustration der « Eliphas-Rede»
zum Buch Hiob und in seinen Hekate-Monotypien
von 1792. Während Blake aber die Figur in einem
arzählerischen oder dekorativen Zusammenhang
verwendet, schafft Füssli aus ihm ein ikonenhaftes
3ild von beinahe orientalischer Gelassenheit und
Rätselhaftigkeit! 2.
Die kauernde oder sinnende Figur hat viele Vor-
‚äufer in Füsslis Kunst. Werke wie « Ezzelin und
Meduna» (Schiff 360), «Der geblendete Polyphem»
/Schiff 1194) oder «Lady Constance, Arthur und
Salisbury» (Schiff 722)13 enthalten Figuren in
ähnlichen Stellungen wie im Gemälde « Das
Schweigen» — allerdings mit einem entscheidenden
\Jnterschied. Jede dieser Gestalten sinnt über einen
bestimmten Vorfall nach: Ezzelin über den Tod der
Meduna, Constance über die bevorstehende Heirat
von Blanca von Spanien mit Ludwig von Frankreich
und Polyphem darüber, dass Odysseus ihn ge-
olendet hat. Im Gemälde «Das Schweigen» ist das
ganze Nachsinnen nach innen gerichtet. Es ist ein
in höchstem Masse introvertiertes Bild, in dem
das fallende Haar alle Zeichen von Individualität
auslöscht und daraus eine universelle, allgemein
gültige Gestalt werden lässt.
Gert Schiff hat die Bedeutung aufgezeigt, die das
Haar für Füssli hat!*. Anders jedoch als in des
Künstlers Darstellungen von seiner Frau oder
anderen weiblichen Figuren, wo kunstvolle
Frisuren sorgfältig gestaltet sind, so dass sie ihnen
beinahe ein düsteres Aussehen verleihen, wirkt bei
dieser Gestalt das Haar, das die zentrale Achse des
Gemäldes bildet, wohltuend und wärmespendend.
Werner Hofmann hat diese Figur im Gemälde
«Das Schweigen» in seinem Vergleich zu Edvard
\Munchs « Salome-Paraphrase» als bedrohliches
Bild ausgelegt!®. Er möchte darin auch Reflexionen
einer «hallow seclusion of introversion» sehen,
welcher die Figur zu entrinnen sucht'®, Ich ziehe es
vor, diese Figur nicht als bedrohlich zu betrachten,
sondern als eine, die vielleicht urmenschliches
Verlangen ausdrückt und personifiziert — den
Wunsch, das vollkommene Schweigen und die
Ruhe des Mutterschosses wiederzuerlangen. Die
sichtbaren Anhaltspunkte im Gemälde weisen
darauf hin. Die Gestalt sitzt von einem schoss-
ähnlichen Hof umgeben in der Dunkelheit; der
Kopf der Frau weist nach unten zum Unterleib hin;
die griechischen Buchstaben deuten auf Schweigen
hin. Der Mutterleib ist natürlich der Ort, wo grösstes
Schweigen und Geborgenheit zuerst — wie später
nie wieder — erfahren werden.
Füssli hatte ein anderes Gemälde, das er ebenfalls
«Schweigen» nannte, für seine « Milton-Galerie»
(Nr. 35; Schiff 915) ausgeführt. Man sieht darauf
eine Mutter, die mit dem Finger am Mund ein
schlafendes Kind betrachtet. Ein anderes Kind auf
der linken Seite ist in Gedanken versunken. Mutter
und Kind als Bild des Schweigens waren in
religiösem Zusammenhang spätestens seit dem
16. Jahrhundert (vgl. Michelangelos «Il Silenzio»!7)
üblich, in weltlichem Zusammenhang setzte sich
dieses im 18. Jahrhundert fort in Werken wie
Greuzes « Silence»'8. Im Zürcher Gemälde jedoch
hat Füssli die Szene verdichtet, indem er eine
ikonenhafte Mutterfigur ohne jeglichen erzähle -
rischen Zusammenhang gestaltet und in ihr das
Wesen des Schweigens verkörpert. So ist das
a)