Volltext: Jahresbericht 1987 (1987)

scheinlich, dass Baumeister damals die Zeitschrift ‘Stijl (seit 
1917) gekannt hat oder Mondrians ‘Neoplasticisme” (1920), 
es ist ebenso unwahrscheinlich, dass er die subtile 
Gewichtsverteilung der Qualitäten und Quantitäten 
(Farben und Flächen) bei Mondrian verstanden hätte oder 
fähig gewesen wäre, dessen ästhetisch-kosmische Bezie- 
hungen selbsttätig in seinem Bewusstsein hervorzu- 
bringen; die Flächenbilder Baumeisters sind entweder 
gelungenes Experiment ‘oder erstaunlich begabte und 
selbständige Reaktionen auf Begegnungen mit konstrukti- 
vistischen Entwürfen dieser Zeit. Baumeister selbst bezieht 
sich in seinen damaligen Äusserungen nicht auf Mondrian, 
sondern auf Cezanne (abschätzbare Tiefe), den Kubismus 
(zusammenwachsende Teile zur Fläche) und den Nachku- 
bismus (Organisation der Flächen in der Fläche); so wenig- 
stens fasst er seine Vorstellungen in einem Aufsatz über die 
Fläche zusammen, der 1923 geschrieben und 1925 in der 
‘Baugilde’ veröffentlicht ist.»13 «Verspannung bedeutet 
dabei wohl die Absicht, die verschieden grossen, zarttonig- 
ausgewogenen Farbflächen unterschiedlicher Tiefenwir- 
kung und malerischer Behandlung mittels einer einfachen 
schwarzen Linie zu einer neuen Einheit, einer schwe- 
benden Ruhe zu bringen. 
In der Leichtigkeit des Formenspiels auf seinem uniform 
grauen, dünn gemalten Hintergrund der Bildwirkung von 
Baumeisters «Verspannung» verwandt, aber fast zwanzig 
Jahre später entstanden, mag Friedrich Vordemberge- 
Gildewarts «Komposition Nr. 115» 1939/40 den Weg auf- 
zeigen, den der Konstruktivismus Richtung «Konkrete 
Kunst» genommen hat. In der Verwendung der Gestal- 
tungsmittel so radikal wie Mondrian, jedoch ohne dessen 
«Aura», im Gegenteil, von der Anonymität einer «Hand- 
schrift» bestimmt, die mit dem Bildkonzept darin über- 
einstimmt, nicht mehr «bedeuten» zu wollen, als auf dem 
Bild vorhanden ist. 
Ein wohl intuitiv in den Raum gesetztes schwarzes Linien- 
muster aus Quadraten, durch Diagonalen geteilt, und 
zweimal als Dreieck «freigesetzt». Sieben Dreiecksfelder 
bleiben leer, ebensoviele sind farbig gestaltet: ein mit dem 
Pinsel gestupftes Weiss, ein gestupftes Grau (wie der 
Hintergrund). und schwarz. Neben den Nichtfarben 
kontrastieren Weinrot mit Zitronengelb, und ein dunkles 
Grün mit einem dunklen Violett. «Die Schwerelosigkeit 
des tänzerischen Rhythmus verwirklichte VG in diesem 
Bilde wohl erstmals gültig durch das nuancierte Gleichge 
wicht von Form, Farbe und Oberflächenstruktur.»!* 
Friedrich Vordemberge-Gildewart wurde 1924 Mitglied 
von «de Stijl», war von 1919-35 ın Hannover tätig und 
kam 1937/38 erstmals in die Schweiz, wohin er bis zu sei- 
nem Tod von Holland aus intensive Kontakte pflegte. So 
verwundert es kaum, dass sein Exilbild «Komposition 
Nr. 115» Beziehungen zu anderen Werken konkreter 
Kunst in der Kunsthaus-Sammlung aufweist, insbesondere 
zu Richard P. Lohses «Konstruktion mit Dreieck», 1942. 
oder Max Bills «Stabilisierte Weisse Kerne», 1964/71, an 
dessen Ulmer Hochschule für Gestaltung er 1954 berufen 
worden war. 
Mit den Bildern von Jean Baier, Max Bill und Walter 
Bodmer (letzteres ergänzt in hervorragender Art ein Draht- 
bild und eine Drahtskulptur) und den Zeichnungen von 
Camille Graeser, Johannes Itten und Richard P. Lohse 
schliessen sich nicht einfach Schweizer Künstlern an — sie 
alle sind biographisch und in ihren Bildkonzepten den hier 
vorgestellten Werken von Pionieren der geometrisch: 
konstruktiven Kunst in vielem verpflichtet. Nicht nur 
deren Vorbild als Gestalter von Gebrauchs-Gegenständen 
oder ihre Beziehungen zur modernen Architektur haben 
sie angeregt, auch in ihren autonomen Werken haben sie 
die Prinzipien ihrer Lehrmeister in‘ einer meist freieren, 
undogmatischen Art zu neuen Seh- und Denkerlebnissen 
verwandelt. 
Guido Magnaguagno 
| Dieser Ansicht, dass es sich ursprünglich um etwas wie ein Sanitäts: 
Kästlein handelt, wird auch von den Restauratoren geteilt. 
' Siehe: Vilmos Huszar, Schilder en ontwerper, 1884-1960. Ausstellungs 
katalog Haags Gemeentemuseum, Den Haag/Utrecht 1985. S. 29-33. 
ı ebenda, S. 36, Abb. 51 und S.158, Ab. 258 
‘ Rotzler, Willi. Theo van Doesburg, «Komposition V», 1918, in: Jahres 
bericht ZKG, 1984, S. 106-109. 
5 Vilmos Huszar, Schilder en ontwerper, a.a.O., S. 55 ff. 
‘ Roth, Alfred. Begegnung mit Pionieren, Schriftenreihe Institut fül 
Geschichte und Theorie der Architektur ETH Zürich, Band 8. Base‘ 
and Stuttgart 1973. 5.132
	        
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