DAS ZÜRCHERGEBIET ALS FARBIGER FLECK
Zu den Aquarellen und Zeichnungen von E.G. Rüegg
Der Graphiker, Maler und Zeichner Ernst Georg Rüegg
(1883-1948) gehörte in den ersten drei Jahrzehnten unseres
Jahrhunderts, zusammen mit Paul Bodmer, Hermann
Huber, Karl Hügin, Reinhold Kündig, Ernst Würtenberger
und Sigismund Righini zu jener Gruppe offizieller Zürcher
Künstler, die sich durch öffentliche Aufträge, in Ausstel-
lungen und Sammlungen, innerhalb der Stadt, aber auch
in Kanton und Nachbarregion einen Namen gemacht
hatten.
Vor allem Rüeggs Druckgraphik fand früh Eingang in
die öffentlichen Institutionen der Stadt. Die Graphische
Sammlung der ETH besitzt heute das vollständige graphi-
sche Werk des Künstlers.! Im Kunsthaus standen von
Anfang an die Gemälde mit surrealistischem Einschlag im
Mittelpunkt, um die sich eine repräsentative Auswahl von
graphischen Blättern, rund die Hälfte des gesamten
(Euvres, gruppierte . Diesem beeindruckenden Bestand an
graphischen Arbeiten standen nur wenige Zeichnungen
gegenüber, die hauptsächlich den Malerpoeten dokumen-
tierten. Als einziges herausragendes Blatt erwarb die
Sammlung 1918 Der wilde Mann erscheint den Bauern, eine
grossformatige, allegorische Landschaftskomposition, in
der Rüegg mit altmeisterlicher Scheibenrissmanier und
dekorativer Flächenwirkung experimentierte.
Obschon Rüegg 1911 zum Mitglied der Sammlungskom-
mission ernannt wurde und von 1916 bis 1948 als Zeichen-
lehrer an der Kunstgewerbeschule Zürich tätig war, wuchs
der Bestand an Zeichnungen und Aquarellen zu Lebzeiten
des Künstlers nicht weiter an. Die Gelegenheit, diese Lücke
zu schliessen, bot sich 1989, als die Witwe des Künstlers
sich freundlicherweise bereit erklärte, eine Auswahl von
Werken auf Papier aus Familienbesitz der Graphischen
Sammlung zu überlassen.
Im Jahresbericht von 1989 wurden drei Blätter daraus
abgebildet. Diesem Besuch folgte vier Jahre später ein
zweiter, der es uns ermöglichte, die Auswahl an Land-
schafts- und Porträtzeichnungen durch Druckgraphik, ver-
schiedene Studien, ein Skizzenbuch und zwei entzük-
kende, unbekannte Frühwerke zu ergänzen: Merkwürdiges
oder die Geschichte vom verlorenen Sohn von 1907 in sechs dem
Jugendstil verpflichteten Umrisszeichnungen und einem
Begleittext aus der Feder des Künstlers sowie die vierzehn
Entwürfe für eine unpublizierte Illustrationsfolge zu
Rainer Maria Rilkes Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Rilke
{um 1917).
In einem Brief an Katharina Kippenberg vom 13.10.1916
beklagte sich Rilke (zehn Jahre nach Erscheinen der end-
gültigen Fassung) über die Ausbeutung seines so überaus
erfolgreichen Jugendwerkes durch Illustratoren, Kompon:i-
sten und Wohltätigkeitsvereine, die sich zur Aktualisierung
des Cornet-Stoffes die Kriegssituation zunutze gemacht
hatten. In den Cornet seien die Motten gekommen, «die
Mal-Motten, die Musik-Motten», meinte Rilke?. Schade,
dass er Rüeggs Entwürfe nicht zu Gesicht bekam. Sie ent-
halten in ihrer expressiven, die Umrisse auflösenden Lavie-
rung durchaus etwas von der «Bewegtheit» und «Unauf-
haltsamkeit im Hin- und Vorübergehen seiner Rhythmen»,
die Rilkes Cornet auszeichnen?. Dem Dichter begegnete
Rüegg zum ersten Mal 1919 im Freundeskreis von Werner
Reinhart. Der melancholische Ton, der Rüeggs lyrische
Versuche wie auch seine allegorischen Kompositionen der
Kriegsjahre durchzieht, ist auch den Cornet-Illustrationen
eigen. Motive wie Abschied und Sehnsucht, Vision und
Versuchung auf dem Lebensweg eines jungen Menschen
treffen wir bei Rüegg in diesen Jahren häufig an. Auf dem
Gemälde Die ferne Burg von 1917 (Kunsthaus Zürich)* reitet
ein Jüngling an drei nackten Frauen vorbei. Die ferne, ver-
schlossene Burg im Hintergrund erfüllt eine vergleichbare
Funktion wie auf dem zauberhaft hingetuschten Blatt
Ankunft im Schloss (Abb. 4), wo den jungen, lebenslustigen
Reiter Liebe und Tod erwarten.
Das Hauptinteresse unserer Auswahl galt den Land-
schaftszeichnungen. Mit 27 Skizzen; Studien und Aqua-
rellen führen sie die Liste der 20 Bildnisstudien, 7 Figuren-
studien für Wandbilder, 2 Aktstudien, 7 Tierstudien, 5
Farbstudien nicht nur an, vielmehr geben sie eine Vorstel-