Volltext: Jahresbericht 1993 (1993)

schen und ägyptischen Skulptur zurück; in dieser Natur- 
näheren, ursprünglicheren Frühzeit prägte sich für Giaco- 
metti nicht die individuelle Charakteristik und auch nicht 
die Leib-Geist-Spannung aus, sondern die geschlechtliche 
Differenz: entsprechend geht er von den Grundformen des 
Männlichen und Weiblichen aus und setzt die Zeichen so 
ein, dass sie zugleich als ganze Figuren oder als Gesichter 
lesbar werden. Doch als Ausgangspunkt für den im Quer- 
schnitt dem Rechteck angenäherten Zylinder des Mannes 
bleibt das Selbstbildnis von 1925 wirksam, ın dem sich die 
Ablösung der Detailformen Augen, Nase, Mund, Ohren — 
von der Grossform bereits ankündigte. 
Wenn wir die Beziehungen zwischen der Selbstbildnis- 
Skulptur und den beiden anschliessend entstandenen 
Werken, dem Törse und dem Couple, aufgezeigt haben, so 
nur, um den enormen, in die Augen springenden Unter- 
schied zu überbrücken. Dazwischen steht der Einbruch der 
avantgardistischen Revolution ins Werk Giacomettis, die 
Krise im Abbilden der äusseren Wirklichkeit, die er zu 
einem Scheitern beim Malen eines Portraits der Mutter im 
Sommer 1925 stilisierte und die doch eher auf einem 
bewussten Entschluss beruhte. So steht der neu erworbene 
Kopf auf der Schwelle von der alten zur neuen Kunst; er 
fasst das Gelernte zusammen und reiht sich als letztes Glied 
in eine Tradition, die bis zum Beginn abbildhafter Skulptur 
zurückreicht. Zugleich aber erreicht die formale Durch- 
dringung der organischen Gestalt des Kopfes eine solche 
analytische Schärfe, dass das Umschlagen zur konzep- 
tuellen Konstruktion des Kunstwerkes als autonome Wirk- 
lichkeit aus abstrakten Elementen bereits als andere 
Betrachtungsweise möglich wird. So ist dieses Selbst- 
bildnis, wie jenes andere, viel komplexere vom Ende der 
surrealistischen Phase — nämlich der Cube —, ein Scharnier- 
oder Schlüsselwerk zwischen zwei Epochen und damit ein 
gewichtiger Eckstein in unserer umfassenden Sammlung 
von Albertos Lebenswerk. 
Christian Klemm 
Das Autoporirait (1925; Gips; 41x 21x 29 cm; Abb. 15, Photo Ernst Scheideg- 
ger 1994) erfuhr, soweit wir sehen, in der Literatur keine nähere Beachtung. 
Erstmals in der Giacometti-Ausstellung in Basel 1966 und wiederum in 
derjenigen in Berlin/Stuttgart 1987/88 (Nr. 11, Abb. S. 152) ausgestellt, 
wurde es zum ersten Mal von Reinhold Hohl, Alberto Giacometti, Stuttgart 
1971, S. 36; abgebildet. Es wurde mit Spenden aus dem Kreis der Stiftungs- 
räte von den Nachkommen Hans Stockers erworben. 
Hans Stocker Alberto Giacometti (Etude) (Öl auf Leinwand, 55 x 46 cm), abge- 
bildet in Alberto Giacometti, Ausstellungskatalog Berlin/Stuttgart 1987/88, 
S. 14.
	        
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