WUURZELWERK.
ZU ZWEI GESCHENKEN VON GEORG BASELITZ.
Wann immer ich anfange zu graben,
finde ich auch etwas.
Baselitz
Unsere heutige Situation wird von zwei gegenläufigen
Impulsen geschüttelt: einerseits dem Fortschritt, der
immer radikaler mit der Vergangenheit bricht, der Deregu-
lierung auf allen Ebenen, die man vor ihrer Desillusionie-
rung Freiheit nannte und die den «Fortschritt» mittels
Ökonomie durchsetzen soll, andererseits das in der
Menschheitsgeschichte gleichfalls neuartige und megalo-
mane Projekt, nichts zu vergessen, sondern vielmehr alles
Vergangene wieder in die Erinnerung zu heben, der Gegen-
wart und Zukunft verfügbar zu halten. Die Kunst steht
mitten in dieser Spannung: auch sie sieht sich dem Druck
von Fortschritt und Deregulierung ausgesetzt, so dass ihr
Gesetz zu lauten scheint: Alles ist erlaubt — ausser allem,
was es bereits gibt. Zugleich aber liegt es in ihrer Natur,
gegen das Vergessen anzuarbeiten: ihre Werke vor allem
sollen der Vergänglichkeit entzogen sein, das Heute dem
Morgen überliefern und dem Heute den Zugang zur Ver-
gangenheit offen halten.
Georg Baselitz hat durch seine Übersiedlung aus dem
Osten Deutschlands in den Westen diese Problematik in
ungewöhnlicher, Existenz angreifender Dichte erfahren.
Zu dem Zeitsprung kam der Paradigmawechsel von einer
primär inhaltlich zu einer weitgehend formalistisch orien-
tierten Kunst, gegen die er sich alsbald sträubte. Die wider-
sprüchlichen Forderungen, die er nicht einfach ignorieren
mochte, trieben ihn in eine aggressive Haltung, in der er
ihnen standhalten konnte. Dabei griff er auf grundlegende
Positionen der Moderne selbst zurück und brachte deren
nicht zuletzt auf Zerstörung zielendes Potential provo-
kativ zur Geltung. Insbesondere der in dem Wurzelgrund
der Psyche stochernde Surrealismus und die schonungslos
schützende Konventionen aufreissenden Schriften Anto-
nin Artauds eröffneten ihm quasi dekonstruktivistische
Verfahren, in denen er in einer Dialektik von Zerstören und
Aufheben für ıhn wesentliche Vorstellungen, Obsessionen,
Erinnerungen gestalten konnte. In der ersten «pandämoni-
schen» Phase traten diese Inhalte noch recht unvermittelt
ins Bild; doch in dem Masse, wie er die künstlerischen
Mittel zu beherrschen und zu entwickeln vermochte, ver-
schob sich die Bruchlinie ins Formale. Nach den in Umriss
und Flächen zerfallenden Helden-Bildern und den die
Figuren durch Schnitte und Verschiebungen zerreissenden
Frakturbildern erwies sich die Umkehrung des Bildmotivs
1969 als ein so radikal innovatives Verfahren, dass die
Gegenstände wieder in ihrer Normalform zulässig wurden.
Das Machen von neuen Bildern erschien nun als das zen-
trale Problem und rückte in den Mittelpunkt der Bemü-
hungen. Zunächst entwickelte Baselitz seine in engerem
Sinne malerischen Fähigkeiten, die «peinture», in den bril-
lianten Adlr-Bildern etwa oder in der sinnlich raffinierten
Fingermalerei. Zunehmend rückten dann Fragen der Bild-
konstruktion ins Blickfeld: das Verhältnis des Bildinneren
zum Rand, der Figur zum Grund, um nur zwei der wichtig-
sten zu nennen. Die Bildform des Diptychons ermöglichte
es ihm durch die polare Zuspitzung, solche Probleme in
Fügungen von systematischer Notwendigkeit zur Geltung
zu bringen. Unser Diptychon Das Akelier markiert hierin
einen Höhe- und zugleich den Wendepunkt, indem nun
die alte Aufgabe, die Arbeit am Inhaltlichen, am Erinnern
und am Mythos wieder wichtig wird: dem formbetonten
Stilleben steht die haltungsbetonte Ausdrucksfigur des
Malers mit seiner Schrifttafel gegenüber.
Was nun an die Oberfläche tritt, findet sich auf den
beiden zugehörigen Diptychen Die Familie und Deutsche
Schule: Die Kindheit im Eltern- und Dorfschulhaus
Deutsch-Baselitz, Erinnerungen an die idyllische Land-
schaft mit Weiher und Baum, das Jugendtrauma der Zerstö-
rung Dresdens, die Ruinen von Stadt und Brücke, die
schon 1978 mit der Trümmerfrau angesprochen wurden.
Bereits in den Helden-Bildern wird deutlich, dass dem sich
nach seiner Heimat nennenden Baselitz nicht an der städti-
schen «vie moderne» gelegen ist, sondern dass seinem
Erleben ein anderer, wichtigerer Strang der modernen
Kunst entspricht: das Anknüpfen an archaische als ur-
sprünglichere, dem Menschen eigentlichere Vorstellungen,
in die er allerdings die Gebrochenheit unserer Zeit ein-