Nachdem wir das materielle Substrat von Cy Twomb-
lys Skulpturen betrachtet haben und gesehen haben, dass
es trotz seiner weissen Schlemmung keineswegs gleich-
gültig ist, wenden wir uns dem zweiten Aspekt zu, den wir
«Modellcharakter» genannt haben. Die alte akademische
Unterscheidung von Materie, Form und Inhalt greift hier
nicht mehr, denn wie in Ovids Metamorphosen durchdrin-
gen sich die Seinsbereich in lebendigem Fluss. Wie
bemerkt, ist mit der Materie oft die Form zugleich gege-
ben, der Inhalt wohnt beiden untrennbar ein. Das Ganze
hat nicht den Charakter eines Abbildes, sondern ist ein
autonomes Ding, das in der Ordnung der realen Dinge
zur Kategorie Kunstwerk gehört, aber zugleich an andere
Dinge erinnert. Reinhold Hohl hat für die surrealistischen
Konstruktionen Giacomettis den Begriff «Schaumodell»
eingeführt”, und das ist auch hier ganz passend, weil es
die konzeptuelle Entleerung von «Inhalt» oder «Zeichen»
vermeidet und zugleich Bezugsgrösse und -art offen lässt.
Gerade die früheste der dem Kunsthaus geschenkten
Skulpturen eignet ein solcher Modellcharakter; sie erin-
nert an eine Panflöte oder Syrinx. Für einmal ist der Bezug
zum Mythos, überliefert von Ovid, manifest: Pan, Inbe-
griff der Natur, entbrennt in Liebe zur Nymphe Syrinx;
seiner Umarmung entzieht sie sich durch die Verwand-
lung in Schilfrohr, das unter den Händen und Lippen des
Hirtengottes aufklingt - Mythos vom Ursprung der Kunst
in Sehnsucht und Entsagung, Sublimierung ins klingend
Ungreifbare. Was früher figürlich ins Bild gesetzt wurde,
schwingt hier nur noch ahnungsvoll mit; die Aussage des
Mythos wird in der Struktur des Werkes selbst nachvoll-
zogen. Als Leihgabe steht ein Guss einer ähnlichen, sechs
Jahre früher entstandenen Skulptur daneben; das Original
gehört Robert Rauschenberg, mit dem Twombly damals
durch Europa und Nordafrika reiste!® In Rom photogra-
phierte er Cy, wie er am Fenster ihres Zimmers bei der
Spanischen Treppe sitzt und eine Lyra, wie sie einst Her-
mes erfand, konstruiert. Doch die Skulptur erinnert mit
ihren Unwicklungen, den Nägeln und Drähten eher an
Fetische und nordafrikanische Zäune oder Latten-
konstruktionen, die auch in Bildern jener Jahre wirksam
sind. Die Faszination durch das Obsessive und Repetitive
des Rituals, das in ursprünglichen Kulturen die Psyche in
Beschlag nimmt, dominiert hier ganz, während es später
von mythischen Allusionen oder freieren Gesten über
lagert wird, wie die Entwicklung dieses Formgedankens
von der früheren zur späteren Skulptur beispielhaft zeigt
Der Begriff der Metamorphose, der Verwandlung, der all
gegenwärtig das Werk Twomblys durchwirkt, ist hier für
einmal nicht auf die Veränderung der Gestalt, sondern au{
die Verschiebung des religiösen Deutungshorizontes zu
beziehen.
Mehrere Skulpturen Twomblys können als Modelle
eines Gefährtes angesprochen werden, ein Motiv, das Gia
cometti mit dem Chartot in die neuere Kunst eingeführt
hat. Von einem altägyptischen Wagen angeregt, wird ihm
die zweirädrige Konstruktion zum hieratischen Zeichen
für das Erscheinen der Gottheit. In einem kleineren Werk
bezog er sich auf Nilbarken, wie sie aus Grabbeigaben
geläufig sind’”. Dass Twombly auf die gleichen Inspira
tionsquellen zurückgreift wie Giacometti, ist kaum
erstaunlich, da dessen reifes Werk nur wenige Jahre voı
Twomblys grundlegender Stilbildung einsetzt. Beide sind
von dem Klima existentieller Gegenwärtigkeit und huma
nistischer Nostalgie geprägt, wie sie die Nachkriegszeit
bestimmte, in der möglichst uralte und archaische
Mythen wieder als Modelle ursprünglichen Menschseins
erschienen. Twombly weilte 1962 und wieder 1985 in
Ägypten; kurz darauf richtete er sich in Gaeta ein Haus
ein, von dem der Blick weit nach Westen über das Tyr-
rhenische Meer schweift und so zu den in lichten Flächen
schwebenden Barken auf den Gemälden der letzten Jahre
anregte. Die Skulptur Winter’s Passage Luxor (Abb. 22) von
1985 bezieht sich wohl auf die Überquerung des Nils in
der Hauptstadt des alten Ägyptens, dem «hunderttorigen
Theben», die von der Stadt der Lebenden auf dem Ostufe:
zur Stadt der Gestorbenen jenseits des Fruchtlandes am
Rande der westlichen Wüste führt; unschwer erkennt man
in der kostbaren Fracht des schlichten Kahns den Sar
kophag. Der Austausch der Lebenden und Toten, die
Rettung der lebendigen Gegenwart in die weiterwirkende
Vergangenheit gehört zu den zentralen Beweggründen deı
Formwerdung; sie gleicht der Entrückung der Opfer in
Ovids Metamorphosen, in denen Sterbliche in Sterne, in
Steine, in Bäume und Quellen, in jedes Jahr neu auf
blühende Blumen verwandelt werden. Den von Tulpen
gekrönte Kubus (Abb. 24) beschrieb ein Freund des Hau-