Full text: Jahresbericht 1994 (1994)

Nachdem wir das materielle Substrat von Cy Twomb- 
lys Skulpturen betrachtet haben und gesehen haben, dass 
es trotz seiner weissen Schlemmung keineswegs gleich- 
gültig ist, wenden wir uns dem zweiten Aspekt zu, den wir 
«Modellcharakter» genannt haben. Die alte akademische 
Unterscheidung von Materie, Form und Inhalt greift hier 
nicht mehr, denn wie in Ovids Metamorphosen durchdrin- 
gen sich die Seinsbereich in lebendigem Fluss. Wie 
bemerkt, ist mit der Materie oft die Form zugleich gege- 
ben, der Inhalt wohnt beiden untrennbar ein. Das Ganze 
hat nicht den Charakter eines Abbildes, sondern ist ein 
autonomes Ding, das in der Ordnung der realen Dinge 
zur Kategorie Kunstwerk gehört, aber zugleich an andere 
Dinge erinnert. Reinhold Hohl hat für die surrealistischen 
Konstruktionen Giacomettis den Begriff «Schaumodell» 
eingeführt”, und das ist auch hier ganz passend, weil es 
die konzeptuelle Entleerung von «Inhalt» oder «Zeichen» 
vermeidet und zugleich Bezugsgrösse und -art offen lässt. 
Gerade die früheste der dem Kunsthaus geschenkten 
Skulpturen eignet ein solcher Modellcharakter; sie erin- 
nert an eine Panflöte oder Syrinx. Für einmal ist der Bezug 
zum Mythos, überliefert von Ovid, manifest: Pan, Inbe- 
griff der Natur, entbrennt in Liebe zur Nymphe Syrinx; 
seiner Umarmung entzieht sie sich durch die Verwand- 
lung in Schilfrohr, das unter den Händen und Lippen des 
Hirtengottes aufklingt - Mythos vom Ursprung der Kunst 
in Sehnsucht und Entsagung, Sublimierung ins klingend 
Ungreifbare. Was früher figürlich ins Bild gesetzt wurde, 
schwingt hier nur noch ahnungsvoll mit; die Aussage des 
Mythos wird in der Struktur des Werkes selbst nachvoll- 
zogen. Als Leihgabe steht ein Guss einer ähnlichen, sechs 
Jahre früher entstandenen Skulptur daneben; das Original 
gehört Robert Rauschenberg, mit dem Twombly damals 
durch Europa und Nordafrika reiste!® In Rom photogra- 
phierte er Cy, wie er am Fenster ihres Zimmers bei der 
Spanischen Treppe sitzt und eine Lyra, wie sie einst Her- 
mes erfand, konstruiert. Doch die Skulptur erinnert mit 
ihren Unwicklungen, den Nägeln und Drähten eher an 
Fetische und nordafrikanische Zäune oder Latten- 
konstruktionen, die auch in Bildern jener Jahre wirksam 
sind. Die Faszination durch das Obsessive und Repetitive 
des Rituals, das in ursprünglichen Kulturen die Psyche in 
Beschlag nimmt, dominiert hier ganz, während es später 
von mythischen Allusionen oder freieren Gesten über 
lagert wird, wie die Entwicklung dieses Formgedankens 
von der früheren zur späteren Skulptur beispielhaft zeigt 
Der Begriff der Metamorphose, der Verwandlung, der all 
gegenwärtig das Werk Twomblys durchwirkt, ist hier für 
einmal nicht auf die Veränderung der Gestalt, sondern au{ 
die Verschiebung des religiösen Deutungshorizontes zu 
beziehen. 
Mehrere Skulpturen Twomblys können als Modelle 
eines Gefährtes angesprochen werden, ein Motiv, das Gia 
cometti mit dem Chartot in die neuere Kunst eingeführt 
hat. Von einem altägyptischen Wagen angeregt, wird ihm 
die zweirädrige Konstruktion zum hieratischen Zeichen 
für das Erscheinen der Gottheit. In einem kleineren Werk 
bezog er sich auf Nilbarken, wie sie aus Grabbeigaben 
geläufig sind’”. Dass Twombly auf die gleichen Inspira 
tionsquellen zurückgreift wie Giacometti, ist kaum 
erstaunlich, da dessen reifes Werk nur wenige Jahre voı 
Twomblys grundlegender Stilbildung einsetzt. Beide sind 
von dem Klima existentieller Gegenwärtigkeit und huma 
nistischer Nostalgie geprägt, wie sie die Nachkriegszeit 
bestimmte, in der möglichst uralte und archaische 
Mythen wieder als Modelle ursprünglichen Menschseins 
erschienen. Twombly weilte 1962 und wieder 1985 in 
Ägypten; kurz darauf richtete er sich in Gaeta ein Haus 
ein, von dem der Blick weit nach Westen über das Tyr- 
rhenische Meer schweift und so zu den in lichten Flächen 
schwebenden Barken auf den Gemälden der letzten Jahre 
anregte. Die Skulptur Winter’s Passage Luxor (Abb. 22) von 
1985 bezieht sich wohl auf die Überquerung des Nils in 
der Hauptstadt des alten Ägyptens, dem «hunderttorigen 
Theben», die von der Stadt der Lebenden auf dem Ostufe: 
zur Stadt der Gestorbenen jenseits des Fruchtlandes am 
Rande der westlichen Wüste führt; unschwer erkennt man 
in der kostbaren Fracht des schlichten Kahns den Sar 
kophag. Der Austausch der Lebenden und Toten, die 
Rettung der lebendigen Gegenwart in die weiterwirkende 
Vergangenheit gehört zu den zentralen Beweggründen deı 
Formwerdung; sie gleicht der Entrückung der Opfer in 
Ovids Metamorphosen, in denen Sterbliche in Sterne, in 
Steine, in Bäume und Quellen, in jedes Jahr neu auf 
blühende Blumen verwandelt werden. Den von Tulpen 
gekrönte Kubus (Abb. 24) beschrieb ein Freund des Hau-
	        
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