Volltext: Jahresbericht 1994 (1994)

der neuen Auffassung aufscheinen und erteilt ihr auch 
eine Antwort, indem er statt des erlösenden Amors sein 
heidnisches Ebenbild, den Tod, mit der Leiche der Psyche 
hilflos dasitzen lässt, die er ebensowenig wie Maria den 
Sohn Gottes wieder ins Leben zu rufen vermag. Mehrere 
verwandte Kompositionen aus den gleichen Jahren 
Ugolino mit der Leiche eines Sohnes auf den Knien, 
Romeo vor der Bahre Julias, Celadon, in dessen Armen 
Amelia vom Blitz erschlagen wird — bestätigen diese 
düstere Interpretation??. 
Diesem weltanschaulichen Pessimismus entspricht 
eine ästhetische Dimension von eigener Ausdrucksmäch- 
tigkeit. Ihr Leitbegriff ist das «Erhabene», das dem «Schö- 
nen», wie es die euphemistischen Todesdarstellungen 
bestimmt, entgegengesetzt ist. Füssli hat dem Unterschied 
in einer anderen ikonographischen Umkehrung schlagen- 
den Ausdruck verliehen: der antiken Skulptur der Drei 
Grazien, wie sie etwa Angelika Kauffmann programma- 
tisch auf ihrem Portrait Winckelmanns in Zürich zeigt, 
setzt er in ähnlich verschränkter Dreiergruppe kauernde 
Mädchen als Darstellung von Furcht, Angst und 
Schrecken gegenüber*®. Solche erschütternde Wirkungen 
erreicht das Genie, indem es «einen Blick ins Dunkel 
wirft», das grenzenlos Überwältigende, das rätselhaft 
Unfassbare beschwört. Wie bei einem Andachtsbild stellt 
sich dem Betrachter die Gruppe unausweichlich frontal 
gegenüber; die mächtigen Schwingen des Gottes füllen 
mit ihrem tiefen Schwarz nahezu den ganzen Bildgrund, 
ja sie überragen diesen in nicht bestimmbarem Masse: es 
gehört zur Wirkungsmacht des Erhabenen, dass es «die 
eigene Grenze in eigener Grösse verhüllt» und dass es das 
Meiste der Phantasie des Betrachters überlässt — mit Füss- 
lis Aphorismen zu sprechen?!. So bleibt auch der Raum 
dunklem Ahnen überlassen; selbst die Erde ist kaum zu 
erkennen, so dass die bildbestimmenden nach unten wei- 
senden Arme, die den Gliederungsrhythmus der Flügel- 
ansätze fortführen, zusammen mit dem hängenden und 
dem abwärts blickenden Kopf einen düsteren, orts- und 
bodenlosen Abgrund evozieren. 
Als wichtigstes Bildmittel erscheint hier aber wiederum 
das Licht - «chiaroscuro’s magic?» —, das steil und gebün- 
delt wie durch einen tiefen Schacht auf den alabasternen 
Leib der Psyche fällt und die mächtigen Glieder des 
Genius in düsterer Blässe aus dem finstern Grund auf 
schimmern lässt. Ein Luftzug streicht aus gleicher Rich- 
tung in die Gruft hinab, weht die goldenen Locken dem 
Jüngling ins Gesicht und lässt sie seinen melancholischen 
Blick zur Entseelten begleiten. Etwas Stimmungshaftes 
entsteht, das freilich ebenso weit von barocker Vanitas- 
Drohung oder erotischem Sensualismus wie von roman- 
tisch weicher Sentimentalität ist; in «heiliger Nüchtern- 
heit» erinnert es noch von Ferne an Tizians Dre: 
Lebensalter, wo der entblösste Bursche ähnlich am Boden 
sitzt und ähnlich von Liebe und Trauer erfüllt zu der frei- 
lich von Leben strotzenden Schönen vor seinem Schosse 
schaut. War in jenem farbenprächtigen arkadischen 
Hymnus die Meditation über Zeugen und Vergehen in 
den ewigen Zyklus einer blühenden und absterbenden 
Natur eingebettet, so ist sie nun ins Individuelle, Rätsel- 
hafte, Unlösbare zugespitzt. Füssli gelang hier eine unver- 
gleichlich tiefgründige Gestaltung des Themas, das von 
der Nachtseite der Aufklärung über die Romantik bis zum 
Symbolismus Musiker, Dichter und Maler zentral 
beschäftigte. Statt seine Komplexität durch eine eindeuti- 
ge Interpretation zu reduzieren, wollen wir mit Füsslis 
Warnung enden: «Approach the sanctuary of mysteries 
guided by reason, but remember that its feeble light can 
only make darkness visible.» 
Christian Klemm 
Ein Blick auf «Amor und Psyche» um 1800 (Ausst.Kat. Kunsthaus Zürich 1994) 
Nr. 18bis Abb., Text von Paul Lang, Abb. der Pret4 von Ercole de’Roberti. In 
der grundlegenden Monographie von Gert Schiff: Johann Heinrich Füssli 
(Zürich 1973) unter den verschollenen Werken S. 654, Nr. 75: Ausstellung 
Royal Academy 1812, Nr. 89. 
Herkunft: William Lock, Norbury, Surrey (?, vgl. Kat. 1994, Anm. 1) - dessen 
Schwiegersohn, Joseph Henry Blake, third Baron Wallscourt (1797-1849, hei- 
ratet 1822 Elisabeth Lock) — seit ca. 1920 Isle of Wight, Privatsammler — des 
sen Erben - 1994 durch Anthony Mould, London, erworben. 
Jörn Göres: Goethes Gedanken über den Tod (in: Der Tod in Dichtung, Philosophie 
und Kunst [ed. Hans Helmut Jansen, Darmstadt? 1989] S. 267-278). 
Jan Bialostocki: Die «Rahmenthemen» und die archetypischen Bilder (in J.B.: Stil 
und Ikonographie [Dresden 1966] S. 111-125). ; 
‘Donat de Chapeaurouge: Wandel und Konstanz in der Bedeutung entlehnter Motive 
(Wiesbaden 1974), ferner Renate Liebewein-Krämer Sähularisierung und Sakra- 
Fistierung. Studien zum Bedeutungswandel christlicher Bildformen in der Kunst des 
19. Jahrhunderts (Diss. Frankfurt 1977). 
Triumph und Tod des Helden (Ausst. Kat. Köln/Zürich 1987) Nr. 103.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.