Volltext: Jahresbericht 1995 (1995)

lich, dass er eine Bildidee, oft auf Bestellung von Samm- 
lern oder Galeristen, mit kleinen Variationen vielfach 
repetierte: Was zählte, war nicht die Einmaligkeit maleri- 
scher Faktur, sondern allein der Bildeinfall, der sich seiner 
Umsetzung gegenüber relativ tolerant verhielt. Unser Bild 
scheint die früheste Ausführung des Motivs zu sein. Prin- 
zip ist wie oft bei Magritte die gezielte Konfusion von Vor- 
der- und Hintergrund respektive von Figur und Grund, 
die Störung natürlicher Grössen- und Distanzverhältnis- 
se. Der Mond - Abbreviatur einer ganzen Tradition 
romantisch-expressiver Naturverinnerlichung - taucht die 
nächtliche Herbstlandschaft in sein Licht, er wird 
zugleich zum Irrlicht, das die zitierte kontemplative 
Innigkeit hartnäckig irritiert. 
La chambre d’Ecoute, 1958 
Auch von diesem Bild existieren vier verschiedene Fas- 
sungen. Die groteske Verzerrung natürlicher Proportio- 
nen bestimmt den Bildeffekt. Ein Apfel, bekannt als 
harmloses Requisit beschaulicher Früchtestilleben, 
erscheint hier zu einer Grösse aufgedunsen, die Wände 
und Decke des heiteren blassrosa Zimmers zu sprengen 
droht. Der Ausblick aufs Meer verschärft die Bedrängnis. 
In anderen Varianten derselben Bildidee ist es mal ein 
Felsbrocken (L’anniversaire, 1959), mal eine Rose (Le tom- 
heau des lutteurs, 1960), welche als blind wuchernde Natur- 
kräfte die Grenzen des sorgsam abgezirkelten Kubus 
menschlicher Verhältnisse erobern. 
Les Gräces naturelles, 1964 
Die Metamorphose ist seit alters her Medium der 
Konstruktion geheimer Entwicklungszusammenhänge 
der Natur, phantastischer Genealogien von Mineralien, 
Pflanzen, Tieren, Menschen und Göttern. Wie auch 
andere Surrealisten, namentlich Max Ernst, war Magritte 
von den Verwandlungen natürlicher Formen fasziniert. 
Hier lässt die formale Analogie von Blattgerippe und 
Gefieder vier taubenähnliche Vögel aus einer Blattstaude 
herauswachsen. Zugleich wirken die Vögel wie verstei- 
nert. Die Befreiung vom pflanzlich Erdgebundenen 
in die organische Selbstbewegung scheint noch vor ihrer 
Vollendung dem Rückfall ins Mineralische, der Petrifi- 
zierung der Vögel zur Statue, zu verfallen. Nicht zufällig 
wohl hat Magritte das Motiv, neben vielfachen male- 
nischen Variationen, unter anderem auch als Skulptur 
ausgeführt. 
Tobia Bezzola
	        
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