Volltext: Jahresbericht 1997 (1997)

zu bearbeiten.» Doch der nächste Dämpfer, und dazu ein 
von ihm selbst verursachter, lässt nicht auf sich warten: 
Burckhardt hat den Kopf zu tief punktiert und jetzt 
sucht er unter tausend Selbstverwünschungen, das Miss- 
geschick auszubügeln und den Fehler auszugleichen. Er 
schreibt danach seiner Frau: «... Erschrick nicht, wir sind 
nicht weit vom Ziel, wenn auch die letzte, ewige Schön- 
heit erst in einem nächsten Werk von mir sein kann; ich 
kann sie - aber Zeit und Geld und Ruhe!» An allem fehlt 
25 Burckhardt. 
Endlich ist die Statue vollendet. Sie wird, bereit zur 
Ausstellung, nach Basel verfrachtet. Burckhardt hat in- 
zwischen auch den Wettbewerb für die Metopen am 
Zürcher Kunsthaus gewonnen und den Auftrag für die 
Amazonenreliefs erhalten; er übersiedelt nach Zürich. 
Zur Aufstellung der «Venus» in der Kunsthalle kommt 
ar selbstverständlich nach Basel. Am 7. Februar 1910 be- 
richtet er seiner Frau nach Zürich: «Seit elf Uhr ist die 
Statue ganz aufgesetzt im untern Saal und ich bin selber 
ganz erschrocken, dass die an und für sich nichtssagen- 
den Stücke aufeinandergestellt etwas Lebendiges ergaben. 
Die Arbeiter, sechs an der Zahl, traten alle zurück und 
sprachen nur noch leise. ... Der Präsident [der Kunstver- 
sinskommission], der heute nachmittag kam, sagte vor 
der Statue mit entblösstem Haupt: «Das ist für uns ein 
Ereignis... In somma: wir sind überm Berg - absolut!» 
Dem war nicht so. Ende Februar kam die Nachricht 
zu Burckhardt nach Zürich, dass ein aufgeblasener 
Kritiker ein höchst abschätziges Urteil in der Zeitung 
veröffentlicht hatte. Neid und Intrigen begannen zu 
spielen. Kunstkommission - zuständig für das Kunst- 
nuseum - und die Kunstvereinskommission lehnten 
einen Ankauf für ihre Sammlungen ab. Für Burckhardt 
brach eine grosse Hoffnung zusammen. Der Gatte des 
2instigen Modells hatte es verstanden, in professoraler 
moralischer Entrüstung Widerstände aufzuwiegeln - 
obwohl nicht mehr die geringste Ähnlichkeit zwischen 
Modell und ausgeführter Marmorstatue bestand. 
Freunde und Kollegen hielten zu Künstler und Werk —- 
aber das half nichts gegen Kommissions-Mehrheiten. Da 
meldete sich Dr. med. Theodor Dieterle aus Zürich; er 
erwarb unter Aufbietung aller seiner Mittel das Werk und 
bot es zur Eröffnung des neuen Kunsthauses in Zürich 
als Depositum an. Dort wurde es im Kuppelsaal des 
ersten Obergeschosses aufgestellt. 
Doch dem ersten Transport über den Bözberg folgte 
ein zweiter und ein dritter. Burckhardts Briefe von 1920 
(von Titus Burckhardt irrtümlich 1910 datiert) berichten 
darüber. Sowohl der Künstler wie der Eigentümer moch- 
ten den Gedanken an eine Aufstellung im Basler Böck- 
lin-Saal nicht aufgeben; dies schien ihnen der einzig 
richtige Standort zu sein. So kam die Statue noch einmal 
über den Bözberg nach Basel zurück, wurde unterwegs 
vom scheuenden Ross einer Holzfuhre gerammt und auf 
die Strasse geschleudert, kam aber glücklicherweise mit 
kleinen Schäden davon - nur ein Fuss musste neu 
gemacht werden. 
Burckhardt und Dieterle waren begeistert von deı 
Aufstellung. Nicht so die Kunstkommission. Burckhardt 
schreibt seiner Frau aus Basel nach Ligornetto, wo die 
Familie jetzt wohnte: «Es kam heraus, dass man meine 
Statue mit allen Mitteln aus dem Museum heraushaben 
will. ... Nun hat der Professor Sch. entdeckt, dass Risse 
in der Decke unterhalb der Venusstatue sind, und dass 
eine Katastrophe befürchtet werden muss, wenn sie nicht 
sofort wegkommt!» Man verbrachte das Werk sogleich 
in ein Seitenkabinett bis zu seinem definitiven Abtrans- 
port nach Zürich. Dort mietete der Besitzer den Garten- 
pavillon des Stockargutes. Und dort verblieb sie, bis det 
inzwischen an einen Sohn von Dr. Dieterle übergegan: 
gene Mietvertrag aufgelöst werden musste. Damals fand 
das Werk im Kunsthaus Zürich jenen Standort, den es 
noch heute inne hat und nun dank dem Erwerb für die 
Sammlung dauernd behalten darf. Der Kuppelsaal Kar! 
Mosers, inzwischen zum grossartigen Zürcher Böcklin: 
Saal geworden, ist der denkbar beste Ort: hier stimmer 
die Architektur des Raumes, die Gemälde an der Wanc 
und das Bildwerk in vollendeter Harmonie überein. 
Wo aber liegen die entscheidenden Gründe für die 
einem hartnäckigen Stellungskrieg zu vergleichende 
Leidensgeschichte der «Venus», einem Stellungskrieg, 
der erst dank der Binding-Stiftung, beinah neun Jahr 
zehnte nach Vollendung des Werks, abgeschlossen wer 
den konnte? Zweifellos nicht nur in der einstmals mir 
selbstgefälligem Moralgehabe aufgebauschten Modell-
	        
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