Volltext: Jahresbericht 1997 (1997)

Affaire, von der heute niemand mehr spricht und die 
kaum noch einer kennt. Zweifellos nicht in statischen 
Problemen, die die Aufstellung eines tonnenschweren 
Marmorkörpers mit sich bringt. Zweifellos weit eher in 
der Konzeption der von Carl Burckhardt mühsam er- 
rungenen neuen Formensprache, in seinem Umgang mit 
Thema und Motiv. Hinter dem inhaltlichen Motiv der 
griechisch-römischen Göttin aus der antiken Mythen- 
welt, hinter der Venus/Aphrodite also steht ein damals 
für das Publikum nicht leicht zu begreifendes, allgemei- 
nes Thema: die Wirkung, die Ordnung, die Gesetze einer 
gewaltigen Lebenskraft, deren Gestaltung sich über ge- 
wohnte Schemata, über Imitation und traditionelle For- 
mulierungen hinwegsetzen muss. In Basel war ein dem 
Neuen nicht gerade aufgeschlossenes Bildungsbürgertum 
tonangebend, und dies war nicht bereit, die kompromiss- 
lose Preisgabe des herkömmlichen «Schönen» hinzuneh- 
men. Hatte nicht noch Jacob Burckhardt Böcklin ge- 
raten, das kühne Konzept der «Trauernden Magdalena 
über dem Leichnam Christi» zu ändern, weil es nicht 
die ausgeglichene Schönheit von Renaissancewerken be- 
sass? Hatte sich nicht 1870 die Kunstkommission gegen 
Böcklins «indezentes» Apollo-Fresko im Treppenhaus 
des Museums gewandt? Dies alles sollte sich erst 1910 
mit der Übernahme der Leitung der Kunsthalle durch 
Dr. Wilhelm Barth langsam ändern —- harzig genug. 
Was konnten sich die Basler damals unter dem Monu- 
mentalwerk einer gewaltigen Frauenfigur vorstellen? Ver- 
mutlich eine Gestalt wie die «Helvetia», die Schlöth um 
1870 für das St.-Jakobs-Denkmal geschaffen hatte: eine 
künstlerisch durchaus achtbare Leistung, eine neobarock 
gesteigerte klassizistische Figur in zeitüblich historisti- 
scher Gewandung und einem Willkommens-Gestus von 
lieblich gemildertem Pathos. Gegen die Polychromie 
Burckhardts erhoben sich wohl kaum Einwände — aus- 
gehend vom Archäologen Treu und dem Bildhauer 
Klinger in Leipzig kam sie damals auch hier in Mode. 
Aber die Formensprache der «Venus», dies unerbittliche 
Zurechtformen von Körperpartien zu Volumen, die zu- 
sammenstimmen müssen auf Kosten «edler Schönheit», 
dieser Mangel an illustrativem Beiwerk, an Attributen, 
dies neuartige Zusammenordnen von «Thema» und 
«Motiv»! Das Motiv mochte einfach zu verstehen sein: 
Venus/Aphrodite — der Titel sagte es. Der Titel jedoch 
stimmte nach damaligen Vorstellungen nicht überein 
mit dem Thema der kraftvollen, durch keine Kleinlich- 
keit zu besiegenden Macht der gewaltigen Körperlich- 
keit, welche ohne falsches Pathos durch ihren Formen- 
aufbau die Kräfte der Schöpfung veranschaulichen 
will: die Spannung zwischen Bewegung und Statik, die 
Präsenz von Volumen und Farbe, das Dominanz einer 
bestimmenden Grundform, die das ganze Bildwerk 
beherrschen soll («der Dämon mit der Eiform», wie 
Burckhardt sich ausdrückte). In ähnlicher Weise wie 
die Kubisten damals in Paris die straffe Geometrie und 
Stereometrie der «cubes» zur Grundlage einer neuen 
Formsprache machten und damit den Anspruch ihrer 
Bildgesetzlichkeit fixierten, die aus dem Chaos fest- 
gefahrener, unkreativer Sehgewohnheiten hinausführen 
sollte. Carl Burckhardt äusserte sich einmal so: «Die 
Form muss alles Psychologische aussagen. ...» — dies aber 
überforderte damals die meisten Kunstfreunde. 
Ferdinand Schlöth: Helvetia 
St.-Jakobs-Denkmal, Basel, 1871/72
	        
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