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kommt. Mit dem Sinken des religiösen Empfindens beginnt die
eigentliche Aera des Naturalismus: die Beziehung des Gegen
standes zum Himmel fällt zugunsten der optischen zum Maler
und Licht und Schatten werden die alleinseligmachenden Gefilde,
auf denen Auge und Pinsel so lange einander hetzen, bis sie
in der Sackgasse des Impressionismus für immer niedersplittern.
Michelangelo, Grünewald, Dürer, Rembrandt: was der Na
turalismus hier erreicht, hebt ihn nur darum so hoch über die
Reihe seiner anderen Jünger, weil das mit am Werk ist, was
bereits ausserhalb des naturalistischen Empfindungskomplexes
fällt. Es ist bezeichnend, dass gerade hier trotz aller Popularität
jene Bürgerliebe ausbleibt, die Raffaels Madonnen ins Schlaf
zimmer hängt; verwunderlich aber, dass es diesen Männern in
der Zwangsjacke naturalistischer Traditionen, nicht zu eng wird.
Dennoch sind hier schon befreiende Striche, wenngleich sie noch
nicht an das streifen, was den naturalistischen Gegenpol erreicht
und dessen Ausdrucksmittel, den Stil. Und es ist zweifellos,
dass dieses Gehirnniveau es ist, das diesen Meistern die unent
wegte Schätzung einer Zeit einträgt, die, die Kunst fast eines
Jahrtausend überspringend, zu den Abstraktionen Aegyptens zu
rückfindet, deren Grösse, deren Stil. Diese Umkehr, so rapid
und ganz sie auch sich vollzieht, meldet sich gleichwohl deutlich
an: Cezanne, van Gogh, Gauguin. Dieser wird zum Wieder
entdecker der Fläche und Farbe und schafft auf Tahiti Bilder,
deren technischer Abkehr von der Natur aber noch nicht ganz
die entspricht, die reingeistig ist. Van Goghs Farbenvisionen,
deren glühhhsse Intensität ihre Gegenständlichkeit noch zu wenig
verformt, zeugen von einem Befreiungsbedürfnis, dessen verzwei
felte Kraft des höchsten Staunens wert ist und der Hauptbestand
teil des geistigen Inventars der neuen Malerei. Cezanne hat für
sie das wenigste getan: er übertrifft zwar die beiden andern an
Klarheit und Sicherheit der Farbe, sein Gehirn aber ist unpro
blematischer und nicht von jenem wilden Schmerz gerüttelt, der
van Gogh verzehrte. Und dieser Schmerz ist es. der in gerader
Linie zu den Pyramiden führt und in das Herz der neuen Kunst.
Sie ist wie alle wahrhaft grosse Kunst der Drang, von der
Qual des Daseins dadurch sich zu befreien, dass sie es, geistig
tief erlebend, transformiert; und nicht wie der Naturalismus ver
klärt. Dje unausweichliche Liebe zum Gegenstand erleichtert
diese Transformation; sie erschwert sie nicht, da es ohne sie
keinen Anfang gibt. Diese Transformation setzte als Expressio
nismus ein, übernahm sich als Kubismus und überschlug sich
als Futurismus. Dennoch wird es an der neuen nicht nur-
kubistischen und nur-futuristischen Malerei klar, dass Kubis
mus und Futurismus nur weniger überschraubt zu sein brauchten,
um zu enthüllen, wie viel die expressionistische Malerei von