16
aber den anderen Weg zu gehen, der zur Knechtschaft, zur Zerstörung
ihres moralischen Wesens, zur Auflösung und zum Kriege m’it sich selbst
führt. Sie kann ihr Leben wählen oder ihren Tod, das Gute oder das Böse.
Wählt sie aber das Böse, so sinkt sie nicht allein zur Natur herab, die
zu überwinden ihre Bestimmung gewesen wäre, sondern da sie selbst frei
willig ihre Freiheit in Unfreiheft, ihren Geist in Ungeist, ihre Einheit in
Entzweiung verkehrte, sogar unter die Natur. Diese selbst aber erhebt sich
alsdann vor der verworfenen und schuldbeladenen Menschheit in der stillen
Größe ihres unwandelbaren Seins als das Sinnbild des verlorenen Paradieses,
des zerstörten Friedens und der zertrümmerten Einheit — gleichsam als
der mythische Garten der Gottheit, worin im ersten Weltalter der noch
schuldlose Mensch und die noch unblutige Kreatur mit ihrem göttlichen
Erzeuger vereinigt lebte, bis er durch seine Verschuldung das heilige Band
zerriß und sich mitsamt der ganzen Schöpfung in den Abgrund des Todes
stürzte. Der Kampf, der auch in der Natur waltet, versinkt vor dem furcht
bareren Kampfe der Menschheit wider sich selbst, da nur diese dadurch
sich selbst aufhebt. Dann spricht die Natur zu uns von dem tiefen Zusam
menhang alles Lebens und alles Blutes, den der frevelnde Mensch wie einen
heiligen Vertrag zerrissen hat. Dann richtet sich in ihr das durch uns ge
schändete Leben vor uns auf und ruft uns unsere Schuld und Schande ins
Gesicht. Der Glanz ihres Lichtes und das Bild ihrer Schönheit tritt wie
ein glühender Vorwurf vor unsere Seele. « Horch, das Blut deines Bruders
schreit zu mir vom Erdboden auf!»
So ist es die Stimme der Natur, die in uns nunmehr die Sehnsucht nach
dem, was wir verloren, ja vielmehr selber preisgegeben haben, mit leiden
schaftlicher Mahnung in uns entzündet. Sie muß zu einem Ruf derAnklage
wider uns selbst anschwellen und sich vor unserem wachgewordenen Gewissen
in den Klagelaut der in ihrer Würde erniedrigten Menschheit verwandeln.
Wir wissen, daß die Natur, ihrem wissenscßaftficßen Begriffe nach, nichts
anderes ist als die Gesamtheit bewußtloser und ungeistiger Gesetzmäßigkeiten,
ja, daß in ihrem Reiche ein ständiger Kampf tobt, in dem allein die physische
Kraft den Ausschlag gibt. Das Bild der scßönen Natur, aus welchem wie
durch einWunder die tote Unbewußtheit des Gesetzes verschwunden und der
verzehrende Kampf in das Gleichnis der Einheit aufgehoben zu sein scheint,
ist aber in Wahrheit schon ein Akt der Vergeistigung der Natur. In dieser
ästhetischen Anschauung ihres Seins vollzieht sich bereits ihre Mensch
werdung, die in einer auf sie gerichteten, schöpferischen Handlung des
menschheitlichen Geistes entspringt. Und so spricht die scßöne Natur —