20
üioan Qoff:
MENSCHENLEBEN
Unter Miljukoff wurde die Todesstrafe abgeschafft. Unter Kerensky er
steht sie wieder.
Seit anderthalben Jahrhunderten schwankt ganz Europa hin und her
und weiß nicht: hat der Mensch ein Recht, an das Heiligste, was es auf
Erden gibt, das Leben, zu rühren! Beccaria sagt nein, Rousseau sagt ja.
Und so kommt es, daß es im Juli 1917, früh um fünf, auf dem Boulevard
Arago in Paris, möglich ist, einen Vatermörder zu sehen, der im Büßer
hemd und barfuß zu seinem Henker wandert. Das schwarze, schwerfällige
Möbel des Docteur Guillotin steht da wie eine Theaterkulisse: Mittelalter.
Im April 1917 hat die russische Revolution die Todesstrafe abgeschafft.
Im Juli sie wieder eingeführt.
Wieviel Pomp, wieviel Bombast um eines Menschen Tod! Wieviel
Geist, wieviel Scharfsinn für anormale Mitbürger verspritzt!
Aber dabei ist es in den vergangenen Jahrhunderten niemand einge
fallen, den Massenmord, den Krieg, den Millionentod so unter die Lupe
zu nehmen. Große Gelehrte standen auf, die Idee des Krieges zu propa
gieren. Keiner fand sich, ihn ernstlich, eingehend, kritisch zu verurteilen.
Und was geschieht? An demselben Tage, an dem der strohblonde Kopf
des Vatermörders in die Sägespäne rollt, nachdem ihn ein Priester noch
schallend geküßt — in derselben Zeitungsspalte verkündet der militärische
Bericht, in Flandern seien zehntausend Väter und Söhne vom Eisen zer
rissen, vom Feuer gepackt, von tollen Menschen durchbohrt worden.
Der Europäer liest das und wundert sich nicht. Das ist Alltagsküche.
Das ist der tägliche, militärische Bericht. Das ist der Gang des Krieges,
der Welt! Zehntausend herrliche, junge, singende Brüder erwarteten seit
drei Jahren den Tod zwischen Blut, Dreck, verlausten Säcken und ver
rückten Menschen. An einem Tag, auf ein Zeichen des Generals, trieb man
sie in den wissenden, in den bewußten Mord. Und in den eigenen Tod.
Sie trugen Felduniformen wie Büßerhemden und Henkersschürzen. Sie
waren keine Idioten, keine Trunkenbolde, keine Vatermörder: aber sie
mußten tausendmal mehr leiden als der möglichst „menschlich“ behandelte
Guillotinierte.
Ist es nicht an der Zeit, Mitmenschen, darüber nachzudenken? Nicht
einem Rechtslehrer allein, nicht Politikern allein fällt die Aufgabe zu, son-