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S. FRIEDLAENDER:
GOETHES FARBENLEHRE
»Error veritate simplicior«
Vor allen andern Dingen, im Himmel und auf Erden, gibt es die Frei-
heit von ihnen, den absolut freien Geist, den man, eben deswegen,
nicht einmal nennen dürfte, weil er natürlich auch frei von Worten
ist. Aber diese hyperätherische Beschaffen- oder vielmehr Unbesdiaf-
fenheit der wesentlichen Voraussetzung alles irgendwie Beschaffenen
setzt sie der Gefahr aus, vergessen oder verkannt zu werden. Wer,
vor irgendeiner Bestrebung, »nichts«, dieses absolut freie Verhalten,
voraussetzt, bleibe besonnen genug, deutlich einzusehen und zu erleben,
daß dieses Nichts zweideutiger ist als alles Zweideutige: Alpha und
Omega der Welt. Es enthält also konzentriert nicht nur alle Unmög
lichkeit, sondern eben auch alle Möglichkeit der Welt — es regt in
dem, der es nicht steril erlebt, alle göttliche Schöpferkraft auf.
Deswegen ist es wohl richtig, daß wir, vor der Bekanntschaft mit
irgend etwas (z. B. mit der Fa r b e), absolut »gar nichts« von ihm wissen
können,- es ist aber falsch, dieses Gar nichts, diese Unwissenheit, simpel
witzlos und steril zu verstehen,- vielmehr ist sie die konzentrierte All
wissenheit, die nur um das Besonderte unwissend ist. Schöpfung
aus dem »Nichts« entbehrt also nicht der Voraussetzung, sondern ist
Schöpfung aus der weltgewaltigen Indifferenz in die Welt der
Differenzen,- und das Nichts, die Indifferenz, ist gerade das notwendig
vorauszusetzendeAllgemeine aller Möglichkeit von Vereinzelungen.
Wer nun dieses Nichts aller Vereinzelung, dieses vorangängige
Auf-ein-Mal der Welt vergißt, oder verkennt, hat bereits den reinen
Blick zur Auffassung des Sinns dieser Vereinzelungen eingebüßt/ ihm
entgeht das Geheimnis, die allgemeine Bedeutung seiner eigenen Vor
urteilslosigkeit, die Schöpferkraft seiner selbst, als einerlabula rasa,
die für alles, was einzeln sich auf ihr zeigen kann, längst prädesti
niert war.