Nikolaus von Verdun
Goldschmied, in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts geboren, gestorben am Anfang
des 13. Jahrhunderts. Seine Tätigkeit wird faßbar durch zwei sicher bezeugte Werke,
den Emailaltar von Klosterneuburg und den Reliquienschrein der Jungfrau in Tournai
(1205). Er zählt zu den größten Persönlichkeiten der europäischen Kunst im Zeitalter
des Uebergangs vom Romanischen zum Gotischen.
92 FUSS DES „TRIVULZIO-KANDELABERS“
Bronze, Höhe 182
Mailand, Dom
Es ist der untere Teil (ca. % der Gesamthöhe) des großen siebenarmigen Bronzekandelabers,
der im Mailänder Dom aufbewahrt wird. Laut von Falke (92, 8. 127 ff) ist dieser Kandelaber,
der reich an Bezügen auf den Marienkult ist, ursprünglich für den alten Mailänder Dom aus-
geführt worden, als Ersatz für einen älteren, bei der Plünderung der Stadt von 1162 nach
Prag überführten und zur Erinnerung an die verehrten Reliquien der Heiligen drei Könige,
die ebenfalls 1162 anläßlich der Zerstörung der Stadt durch Barbarossa von Mailand nach
Köln gebracht wurden, Diese Hypothese läßt sich jedoch anscheinend weder mit der durch die
Annalen des Doms dokumentierten Tradition in Uebereinstimmung bringen, noch mit der In-
schrift auf dem Marmorsockel des Kandelabers, laut welcher dieser von dem Erzpriester Giam-
battista Trivulzio im Jahre 1562 geschenkt wurde.
Die ganze figürliche Dekoration sammelt sich im Fuß und im ersten Knauf, die einst mit
Edelsteinen und Glasflüssen reich geschmückt waren. Vier Drachen, die Köpfe an den Boden
gedrückt, von Gruppen nackter Jünglinge festgehalten, Affen, Löwen und Greife bilden das
Gefüge des Fußes. In den von den Schwänzen gebildeten Voluten finden die allegorischen
Gestalten der Dialektik, Rhetorik, Musik und Geometrie Platz, während auf der Rückseite
vier männliche Akte die vier großen Flüsse des Altertums symbolisieren, oder, nach anderen,
die vier Flüsse im Garten Eden. In den dreieckigen Zwischenräumen zwischen den Drachen
tragen Spiralvoluten nach unten acht biblische Szenen: Die Erbsünde, Die Vertreibung aus
dem Paradies, Die Arche Noahs, Abrahams Opfer, Moses’ Berufung, Den Auszug aus Aegyp-
ten, Ahasver und Esther, David und Goliath. Weiter oben die Tugenden im Kampf gegen die
Laster und die Zeichen des Tierkreises. Im Knauf sind Maria mit dem Kind und der Ritt
der drei Könige dargestellt.
Der französische oder vielmehr lothringische Charakter des Werkes wurde von Falke hervor-
gehoben, auch mit Bezug auf den ähnlichen Kandelaberfuß, der im Museum von Reims auf-
bewahrt wird, und, um einige Jahrzehnte älter, gegen 1150 zu datieren sein dürfte. In An-
betracht dessen, und wegen des außerordentlich hohen künstlerischen Niveaus des Mailänder
Exemplars, schlägt der gleiche Gelehrte vor, das Werk Nikolaus von Verdun zuzuschreiben,
indem er sich auf die Stilverwandtschaft mit anderen Arbeiten desselben stützt, wie dem Reli-
quienschrein der drei Könige in Köln und den Anno-Schrein in Siegburg. Die wahrschein-
lichste Datierung wäre um 1200, in der Periode zwischen der Tätigkeit des Künstlers in Köln
und Tournai. Die Zuschreibung ist übrigens nicht von allen Kritikern angenommen worden.
Unter andern zweifelt Braun (in Thieme-Becker Künstlerlexikon, ad vocem) daran. Unbestrit-
ten ist auf alle Fälle die außerordentliche Begabung des Künstlers, der mit einer vollendeten
technischen Sicherheit einen wunderbaren Reichtum dekorativer Erfindungskraft verbindet,
zusammen mit den Gaben eines vollkommenen Plastikers. Das zeigt sich z. B. in der Darstel-
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