Volltext: Zweiter Jahrgang (2(1921))

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Der Sinn der Realität ist die 
Quintessenz der sie konstituie 
renden Fakten, ihre Ideeisierung. 
Die Häufung genau beobachteter 
Details, das »nach dem Leben«, 
beweist gar nichts, denn die 
künstlerische Wahrheit ist visio* 
när. Die chinesischen Götter 
bilder haben Stirnbudcel, die es 
»nicht gibt«. Jene kleinen Fi 
guren der jonischen Inseln haben 
Wasserbäuche. Die Wirklich 
keiten der Kunst sind Produkte 
einer hohen intellektuellen Che 
mie, nicht automatisch mit der 
Hand nachgezogene Reflexe auf 
der Hornhaut eines enthirnten 
Individuums aus der Gattung 
»Maler«. 
Was die Leute vor Kunst* 
werken oft Deformation nennen, 
das ist eben das schöpferische 
Prinzip, die anima Dei. Michel 
Angelo deformierte den Sinn 
des Marmors, um auf die Ge 
heimnisse des Steins zu kommen 
und aus ihnen zu erlauschen, wie 
Damenbildnis sie in eine Form zu ketten seien. 
Was für Kämpfe muß es die 
Bildhauer des 13. und 14. Jahr* 
hunderts gekostet haben, dem Steine ein Lächeln, einen Faltenwurf zu entreissen, und galten 
als Narren. 
Egon Schiele 
<Staatsgalerie, Wien) 
Alles vor dem Werke eines Künstlers Sagbare und des Sagens Würdige wird immer allgemein 
sein, denn das Besondere des Falles ist eben in dem Besonderen der künstlerischen Mitteilung so 
absolut gesagt, daß es umschreibend wohl andeutbar, aber in keiner Weise ersetzbar ist: ein 
Gedicht ist nicht zu malen, eine Malerei nicht zu dichten. Daß aber das Werk eines Künstlers 
dazu führt, allgemeine Gedanken auszulösen, ist Beweis für die Stärke dieses Werkes, für seine 
Kunst. Vor dem Schund fällt einem nur ohnmächtig das Wort Schund von der Zunge. 
Franz Blei. 
DIE NEUE BEWEGUNG IN DER MUSIK. 
Weniger als irgendwo anders, so scheint es mir, kann man die Erscheinungen der neuen Kunst 
in Wien in die Schlagworte fassen, mit denen man heute, im Drange zu rubrizieren und dem 
Gedächtnis leichte Brücken zu bauen, jede Kunst abzugrenzen sucht. Es handelt sich um eine 
Vielheit von Äußerungen eines starken Triebes, zu schaffen, darzustellen, und es wäre vergebens 
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