Volltext: Jahresbericht 1994 (1994)

sich selbst begründeten Sinnstiftenden über die Beleh- 
rung und den Genuss, das «docere et delectare» der älte- 
ren Theorie hinaus, und zugleich deren prinzipielle Auto- 
nomie gegenüber dem herkömmlichen Auftrags- und 
Funktionszusammenhang mit Kirche und Staat. Und 
hier, in diesem gestalthaften Bereich, konkretisieren sich 
die geistigen Phänomene im Anschaulichen von Pseudo- 
morphosen. Die Kunstgeschichte, selbst ein Säkularisie- 
rungsprodukt der Theologie, liebt diese Verschiebungen 
und wittert, unter dem Leistungsdruck der Sinnstiftung 
stehend, Zusammenhänge, wo sie allenfalls auf einer ganz 
niederen Ebene der Ökonomie formaler Traditionen exi- 
stieren. Es ist die Motivgeschichte, die sich solchen Fra- 
gestellungen widmet und bezeichnenderweise gerade für 
die Malerei des 19. Jahrhunderts mit ihrer diffusen Aus- 
breitung und Verbeliebigung der Inhalte wichtig wird. Jan 
Bialostocki, der bedeutende polnische Kunstwissenschaf- 
ter, hat vor dem Hintergrund des Spannungsfeldes von 
Katholizismus und Kommunismus seine Theorie der 
«Rahmenthemen» entwickelt, in der die Unterschiede der 
präzisen Inhalte auf umfassende anthropologische 
Grundkonstanten, wie «Mutterschaft» und dergleichen 
reduziert und so harmonisiert oder «kompatibilisiert» 
werden‘. Anderen Kunsthistorikern aber genügt solches 
nicht, und sie postulieren spezifische, bewusste Bedeu- 
tungsübertragungen, wo es sich zunächst nur um formale 
Ähnlichkeiten handelt“. Da liegt also etwa im Gemälde 
von Benjamin West der sterbende General Woolf ähnlich 
wie der tote Christus auf van Dycks Beweinung in Ant- 
werpen, und schon wird angenommen, der Militär werde 
als neuer Heiland dargestellt®. Solche mythische Übertra- 
gungen, assoziative Allegoresen, metaphorische Verschie- 
bungen entsprechen ganz der Homiletik: der Prediger 
geht von einem Bibeltext aus und setzt ihn durch solches 
Denken in Analogien mit der aktuellen Situation in 
Beziehung. Inwiefern aber der Maler solches beabsichtigte 
und das Publikum dies gar realisierte, ob nur eine allge- 
meine sakrale Aura oder eine bestimmte, etwa politische 
Aussage transportiert werden sollte, dies lässt sich selten 
entscheiden. Explizit ausgenützt wird die Möglichkeit in 
Karikaturen, aber auch Reynolds, der wichtigste Maler in 
London zur Zeit von Füsslis Anfängen und sein Mentor, 
spielte mit solchen Zitaten, wobei der Bezug zu einem 
berühmten Vorbild gewissen Portraits gezielt eine höhere 
Sinnschicht und damit eine Annäherung an die Histori- 
enmalerei verleihen sollte, während andere Übernahmen 
aus entlegenen Quellen nur der «Originalität» des Malers 
dienten und entsprechend in einem satirischen Gemälde 
als Plagiate denunziert wurden“. 
Während also die meisten derartigen Motivübernah- 
men ausser dem Ausdrucksgehalt, der jeder Körperstel- 
lung oder Figurengruppierung an sich eignet, kaum 
Inhaltliches transportieren, scheint der Fall von Füsslis 
«Amor und Psyche» schon deshalb ungewöhnlich, als sich 
die Interpretation der Szene radikal von allen anderen 
Darstellungen des gleichen Momentes unterscheidet. Um 
diese Besonderheit richtig zu verstehen, muss kurz das 
von Apuleius in seinem «Goldenen Esel» erzählte Mär- 
chen rekapituliert werden. Psyche erregt durch ihre über- 
grosse Schönheit den Neid der Venus, und diese schickt 
ihren locker Liebespfeile versendenden Sohn Amor aus, 
sıe zu rächen. Doch nun verliebt sich der Gott der Liebe 
selbst und entführt Psyche in seinen Palast, in dem er sie 
im Dunkel der Nacht besucht, bis sie sein Verbot, ihn zu 
sehen, übertritt. Jetzt ist sie der Rache der Venus ausgelie- 
fert, die Unmögliches von ihr verlangt; nachdem sie die 
letzte und schwerste Prüfung, das Einholen der Schön- 
heitssalbe von der Unterweltsgöttin Persephone, durch 
wunderbare Hilfe bereits glücklich hinter sich gebracht 
hat, fällt sie wiederum ihrer unbezwingbaren Neugier 
zum Opfer und öffnet entgegen dem Verbot das Gefäss. 
Ein tödlicher Dampf entsteigt ihm und umfängt Psyche - 
«Unbeweglich lag sie da, ein schlafender Leichnam, nichts 
weiter’.» Amor eilt herbei, weckt sie mit dem Stichlein 
einer seiner Pfeile und schickt sie mit der Salbe zu seiner 
Mutter, während er selbst die Genehmigung zur Hochzeit 
vom Göttervater einholt, die alsobald gebührlich im 
Olymp gefeiert wird. 
Wie man sieht, hat das oberflächlich so leichtfüssig 
daherkommende Märchen viel mit Tod und Jenseits zu 
tun. Das beginnt schon damit, dass Psyche gemäss eines 
finsteren Orakel geopfert werden muss, indem sie von 
einem Fels gestürzt wird. Auf wunderbare Weise von 
Zephir aufgefangen, gerät sie so in das Jenseits von Amors 
Traumpalast, der nach ihrem ersten Vergehen schlagartig 
verschwindet und sie verzweifelt umherirren lässt. Da sie
	        
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