Sigbjörn Obstfelder.
(1866—1900)
Eine literarische Unterhaltung.
Mir kam vor kurzem ein schmaler Band Novellen in
die Hand, Kinder eines bisher wenig bekannten norwegi
schen Dichters: Sigbjörn Obstfelder. Während des Lesens
überkam mich ein wunderliches Gefühl, halb Staunen, halb
Wehmut; ein Gefühl, wie wir es wohl als Kinder mochten
empfunden haben, wenn wir im dunklen Schlafzimmer lagen,
und nebenan jemand vorsichtig und linde einen jener alten
naiven Walzer der Biedermeierzeit spielte. Mit derselben
schmerzlichen Innigkeit nahm mich auch die Lektüre dieser
wenigen Novellen gefangen, weil ich unklar fühlte, daß jene
seltsamen, unwirklichen Gestalten, die wie Schattenbilder
an meinem Geist vorüberhuschten, weit mehr waren, als
bloße Romanfiguren . . . Hinter ihrem grauen gespenster
haften Dasein entblößte sich die Seele ihres Schöpfers, der
ihnen sein Herzblut eingeimpft hatte, ohne sie jedoch lebens
fähig zu machen, weil er es selbst nicht war. Und dies
war die große Tragödie des Menschen und des Künstlers
in Obstfelder! Ihm, der wie kein Zweiter künstlerisch
zu empfinden vermochte, dem eine seltene Farbenwirkung,
ein halbaufgegriffener Klang zum Erlebnis wurde, ihm hatte
das Schicksal das Höchste, das Wunderbarste des inspirierten
Menschen Vorbehalten: Das Selbstschaffen!
Sigbjörn Obstfelder war der Sänger der Dämmerung.
Er liebte es, sich gegen Abend in den entlegenen Vor
städten Kristianias aufzuhalten, um auf die verworrenen
Geräusche der belebten Uferquais zu achten oder am Hori
zont die Farbenmusik der fernen Bahnhöfe zu studieren.
Er liebte die seltenen Visionen seiner Träume und erfüllte
damit die kalte grelle Helle seiner Tage. So war er ganz
Nerv, ganz Stimmung und Empfindung. . . . Aber er litt
wie an einer inneren Krankheit an diesem unheimlichen
Aufnahmevermögen; er litt doppelt darunter, weil er sich
nicht von der Last der aufgenommenen Einwirkungen
befreien konnte, weil seine Kraft zu schwach und sen
sibel war, um selbstschöpferisch tätig zu sein, um, wie
beispielsweise Guy de Maupassant, aus einer Reihe von
Visionen und psychischen Erlebnissen ein Kunstwerk
zu schaffen. So wurde für ihn jenes wunderbare
Gnadengeschenk aller großen Dichter eine Midasgabe, die
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