Volltext: Neue Jugend (1-5;7-11/12)

Sigbjörn Obstfelder. 
(1866—1900) 
Eine literarische Unterhaltung. 
Mir kam vor kurzem ein schmaler Band Novellen in 
die Hand, Kinder eines bisher wenig bekannten norwegi 
schen Dichters: Sigbjörn Obstfelder. Während des Lesens 
überkam mich ein wunderliches Gefühl, halb Staunen, halb 
Wehmut; ein Gefühl, wie wir es wohl als Kinder mochten 
empfunden haben, wenn wir im dunklen Schlafzimmer lagen, 
und nebenan jemand vorsichtig und linde einen jener alten 
naiven Walzer der Biedermeierzeit spielte. Mit derselben 
schmerzlichen Innigkeit nahm mich auch die Lektüre dieser 
wenigen Novellen gefangen, weil ich unklar fühlte, daß jene 
seltsamen, unwirklichen Gestalten, die wie Schattenbilder 
an meinem Geist vorüberhuschten, weit mehr waren, als 
bloße Romanfiguren . . . Hinter ihrem grauen gespenster 
haften Dasein entblößte sich die Seele ihres Schöpfers, der 
ihnen sein Herzblut eingeimpft hatte, ohne sie jedoch lebens 
fähig zu machen, weil er es selbst nicht war. Und dies 
war die große Tragödie des Menschen und des Künstlers 
in Obstfelder! Ihm, der wie kein Zweiter künstlerisch 
zu empfinden vermochte, dem eine seltene Farbenwirkung, 
ein halbaufgegriffener Klang zum Erlebnis wurde, ihm hatte 
das Schicksal das Höchste, das Wunderbarste des inspirierten 
Menschen Vorbehalten: Das Selbstschaffen! 
Sigbjörn Obstfelder war der Sänger der Dämmerung. 
Er liebte es, sich gegen Abend in den entlegenen Vor 
städten Kristianias aufzuhalten, um auf die verworrenen 
Geräusche der belebten Uferquais zu achten oder am Hori 
zont die Farbenmusik der fernen Bahnhöfe zu studieren. 
Er liebte die seltenen Visionen seiner Träume und erfüllte 
damit die kalte grelle Helle seiner Tage. So war er ganz 
Nerv, ganz Stimmung und Empfindung. . . . Aber er litt 
wie an einer inneren Krankheit an diesem unheimlichen 
Aufnahmevermögen; er litt doppelt darunter, weil er sich 
nicht von der Last der aufgenommenen Einwirkungen 
befreien konnte, weil seine Kraft zu schwach und sen 
sibel war, um selbstschöpferisch tätig zu sein, um, wie 
beispielsweise Guy de Maupassant, aus einer Reihe von 
Visionen und psychischen Erlebnissen ein Kunstwerk 
zu schaffen. So wurde für ihn jenes wunderbare 
Gnadengeschenk aller großen Dichter eine Midasgabe, die 
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