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Fortsetzung der liberal-bürgerlichen war. Hier offenbarte sich am
deutlichsten der tiefliegende Unterschied zwischen zwei Genera
tionen, richtiger zwei Menschentypen, von denen der erste noch
tief im Boden des Nationalismus wurzelte und sich bestenfalls nur
zum rührseligen Pazifismus emporschwingen konnte, während dem
zweiten Typus der vorbehaltlose Internationalismus als erste Stufe
des echten Humanismus zur selbstverständlichen Forderung ge
worden war. Als Beispiel dieser politischen Dichtung im umge
werteten Sinne möge hier das Gedicht „Roter Augenblick“ mitge
teilt werden:
Meine Augen erschlossen sich zu festlichen Pforten
Bruder! Bruder!
Wer trank die objektlose Perspektive auf?
Ihr kommt und um euch zerbröckelte die mathematische Zeit,
Fülle vom Unendlichen im Einen.
Irgendwo schnellte die Rakete versammelter Schreie empor.
Und ihr zieht jetzt um unter den schwarzroten Fahnen eurer Beschwerden
und Wünsche
durch das angestaunte Nichts und die Greuel der Jahre.
Die Stirne von Nah und Fern prallte im Augenblick zusammen.
Nur Augenblicke gibt es!
und ihr marschiert einander entgegen, daß die wundgerissene Erde lacht und
die Tafeln der Anständigkeit weinen und die nationalen Phrasen von den
Häusern herabschmelzen.
Die Wirklichkeit von Zeit und Raum schleppt ihr in euren Augen;
Studenten, Soldaten, Fabriksarbeiter, kurzhändige Diebe, Bauern, Atheisten,
keusche Bürgermädchen
und ihr mahlt die sammetrote Wahrheit eurer Zunge in die furchtgelähmte
Welt.
Ich sehe euch.
Euch alle sehe ich Brüder,
und nun singe ich Fackeln vor euch hin auf den verknoteten Wegen.
Ich dehne mich aus nach euch im anbrechenden Morgen,
den ihr sicher wie eine rote Pforte durchfluten werdet.
Ich begrüße euren ersten freien, siegreichen Tag,
wo ihr alle sauber sein und euch in der Kraft verschönen könnt,
wie das rings auflodernde Feuer und die uferlosen Gewässer.
Und dem wird sicher so, denn in der lebendigen Summe der Welt
bist du der Zähler und auch der Nenner bist nur du.
O Mensch in Aufruhr!
Mein Zwillingsbruder im Augenblick.
Das tragische Ende der ungarischen Revolution, an deren
Vorbereitung nach dem Intermezzo einer bürgerlich-liberalen Repu
blik sich auch Kassäk beteiligte, der Tausende und Abertausende
unter den Trümmern begrabende Sturz der Diktatur dürfte auch
dem deutschen Leser erinnerlich sein. Der Lebenstraum der Gene
ration, deren Dichten und Trachten in den Werken Kassäks und der
„Maisten“ zum Ausdruck gelangt, ist jäh zerronnen. Es folgten
Tage der tollwütigen politischen Rachsucht, Roheitsakte und Ver
folgungen in einem vielleicht noch nie dagewesenen Ausmaß: Tage,