ZU ZEICHNUNGEN VON ALBERTO
UND GIOVANNI GIACOMETTI
selbst in früheren Aquarellen verwendeten
divisionistisch-fleckenhaften Farbauftrag
zugunsten einer lockeren, grosszügigen
Pinselführung auf. Grosszügig wirkt vor
allem die Wiedergabe der in einer verein-
fachten Form zusammengefassten Baum-
blüten, deren lichthaltiges Weiss das
ausgesparte Weiss des Papiergrundes ist.
Er konzentriert den Natureindruck auf wenige.
dicht beieinanderliegende Gelb- und Grün-
töne, die mit der Komplementärfarbe zu Gelb,
mit Violett, kombiniert werden. Auch in der
Motivwahl bleibt Alberto seinen beiden
Vorbildern verbunden, deren Hauptthemen
die heimatliche Landschaft und die eigene
Familie sind, und er bringt, wie diese, mit
dem Naturausschnitt seine Empfindungen
beim Anblick der vertrauten Umgebung zum
Ausdruck.
Seit seinem 10. Lebensjahr zeichnete Alberto
Giacometti nach der Natur, und seine
Geschicklichkeit gab ihm das Gefühl, wie er
selbst später sagte, er «könne mit diesem
grossartigen Mittel, der Zeichnung, alles
einfangen, alles bezwingen». Bei seinem
Vater, Giovanni Glacometti, hatte er bereits
als Knabe die künstlerischen Richtungen
des Impressionismus und des Pointillismus
kennengelernt und die Auseinandersetzung
mit Cezanne, van Gogh und Hodler mit-
arlebt. Sein Pate, Cuno Amiet, machte ihn
mit der Kunst Gauguins und der Schule von
?ont-Aven sowie mit dem Fauvismus und
dem Expressionismus der Brücke-Maler
vertraut, denen sich Amiet 1906 an-
geschlossen hatte. Nachdem Alberto auf
Anraten seines Vaters 1919 seine künst-
lerische Ausbildung an der Ecole des Beaux
Arts in Genf begonnen hatte, verbrachte er
1920 einige Zeit bei Cuno Amiet in
Oschwand, wo beide gemeinsam vor der
Landschaft arbeiteten. Die von dem Paten
vermittelten Vorstellungen Gauguins über
die Ausdruckskraft der Farbe beeindruckten
Alberto sehr, so dass er später über diese
Zeit schreiben konnte: «Ich hatte die Über-
zeugung, dass der Himmel nur aus Kon-
vention blau, in Wirklichkeit aber rot ist! .»
Die künstlerische Selbstsicherheit seiner
Jugend — sie dauert nur so lange, als er die
Kunstkonventionen nicht in Frage stellt —
macht bald einem tiefgreifenden Zweifel
Platz, der ihn sein ganzes Leben nicht
verlässt. 1922 geht er nach Paris an die
Academie de la Grande-Chaumiere, wo er
bei Bourdelle Modellstudien betreibt. Dort
werden ihm die Schwierigkeiten, die Wirk-
lichkeit zu begreifen und wiederzugeben,
schmerzhaft bewusst. Im Rückblick schreibt
er 1947: «Da ich trotzdem das, was ich sah,
so gut wie möglich verwirklichen wollte,
begann ich in meiner Verzweiflung, zu Hause
in dem Aquarell B/ühender Baum vor dem aus dem Gedächtnis zu arbeiten.» Aus dem
Atelier in Stampa, das um 1920/22 im Gedächtnis und nicht nach dem Naturvorbild
neimatlichen Stampa entsteht, sind die zu arbeiten bedeutet, zunehmend der
Anregungen von Giovanni Giacometti und Imagination Spielraum gewähren. Es ent-
Amiet zu erkennen. In der lichterfüllten stehen die ersten Hauptwerke, die sogenann-
Farbigkeit lehnt sich Alberto insbesondere ten Scheibenplastiken. « Diese Werke stellten
an den fauvistisch beeinflussten Kolorismus aber nur einen gewissen Teil meiner
seines Vaters an. Allerdings gibt er den auch Vorstellung von der Wirklichkeit dar; es
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