Den Firnis hat Turner aber auch benutzt, um
3lanzlichter herauszuarbeiten, indem er ihn stellen-
weise wegkratzte, was im Himmel gegen den Bild.
rand hin, aber auch in der rechten Bildhälfte be-
sonders deutlich wird, beispielsweise beim Rauch,
der dem Kamin des Hauses unten rechts entweicht.
Den Firnis hat Turner aber auch ganz bewusst zur
Unterstreichung der Komposition eingesetzt, indem
die helle Bildmitte von ihm freigelassen wird,
während sich das Blatt gegen die Ränder hin in der
Form eines liegenden Ovals merklich verdunkelt.
Nenn man bei den früheren Schweizer Aquarellen
von der Dramatik der Motivwahl sprechen kann, so
bei den späteren von der Dramatik der Licht-
führung. Durch das Gegenlicht verschmelzen der
Z]uss, der See, die Horizontlinien mit dem Himmel,
der räumliche Fluchtpunkt stimmt mit dem
zentrierten Licht überein. Durch das Gegenlicht
wird die ganze Szene in eine unwirklich helle,
erscheinungshafte Lichtfülle getaucht, Ja man kann
so weit gehen zu sagen, dass Turner seine Motive
in der späten Zeit fast nur noch als Vorwand gewählt
hat, um seine Visionen von Licht und Farbe zu
realisieren. Besonders deutlich wird dieses Be-
streben bei der Serie der Rigi-Bilder$®, die den Berg
bei wechselnder Beleuchtung zeigen und die eine
Betrachtungsweise vorwegnehmen, die später
Monet bei den Serien der Fassade der Kathedrale
von Rouens und der Heuhaufen oder Cezanne bei
der Auseinandersetzung mit der Mont Sainte-
Vietoire zur Vollendung gebracht haben.
erinnert, die mit Turners stürmischen Meerbildern
oder Darstellungen von Lawinen und Schnee-
stürmen wesensverwandt sind. Es wäre freilich
falsch, den späten Turner als Impressionisten zu
bezeichnen, er hat zwar impressionistische Seh-
weisen, wie das Beispiel Rigi zeigt, vorweg-
genommen, seine Farb- und Lichtvisionen jedoch
beschränken sich nicht, wie der klassische fran-
zösische Impressionismus, auf die rein optische
Wahrnehmung der Epidermis der äusseren Wirk-
lichkeit. Turner bleibt ein affektgeladener Künstler,
dessen Visionen stets ausdrucksgeladen sind;
nicht das beruhigte Einfühlen des Menschen in
seine Umwelt interessiert ihn, sondern die Aus-
einandersetzung mit den meist übermächtigen, den
Menschen beherrschenden Naturgewalten.
Felix A. Baumann
ANMERKUNGEN
John Russell, Andrew Wilton, Turner in der Schweiz.
Bearbeitet von Walter Amstutz, de Clivo Press, Dübendorf
1976, S. 28.
Zussell/Wilton, S. 121.
British Museum, TB CCCLXIV-289; Abb. in Russell/Wilton
5.121
British Museum, TB CCCLXIV-291,
British Museum, Lloyd-Bequest 1958—-12-445; Abb. in
Russell/Wilton S. 122.
Russell/Wilton, S. 87-91, Ausstellung Turner 1775—1851.
Royal Academy, London, 1975, Nr. 592-603.
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Turners Stellung als Landschaftsmaler im 19. Jahr-
hundert könnte man, etwas vergröbernd allerdings,
als Bindeglied zwischen der romantischen und der
impressionistischen Betrachtungsweise charak-
terisieren. Mit der Romantik verbindet ihn das
Interesse an landschaftlichen Extremsituationen,
für die Katastrophe, an den Naturgewalten, denen
der Mensch machtlos ausgeliefert ist. Es sei hier nur
an Caspar David Friedrichs Hamburger Bild des
Schiffbruchs oder Gericaults Floss der Medusa
NM