Volltext: Jahresbericht 1989 (1989)

ZWEI WERKE VON GEORG BASELITZ 
Das Atelier» 
Das Naheliegendste bei Kunst ist eigentlich immer, zuerst 
zınmal hinzuschauen. Manchmal zieht sie durch die 
Pracht ihres Farb-Spiels oder die Dichte ihrer Formspan- 
nung auf den ersten Blick in Bann, oft gibt sie sich störrisch 
und fordert vom Betrachter harte Arbeit. Baselitzens 
Gebilde gehören offensichtlich zur zweiten Sorte, wie 
schon ihre kopfständigen Männer und Frauen lauthals 
dekunden: dieses Verkehren kann man nicht stillschwei- 
zend durchgehen lassen. Zunächst aber, wie bemerkt, hin- 
zeschaut auf das, was zu sehen ist. 
Zu sehen ist Malerei: auf eine Fläche aufgebrachte 
Farbe. Nicht ölig Flüssiges, sondern trockene Eitempera 
wurde verwendet, die das Staubige der Pigmente wahrt und 
Jas Borstige der Pinselarbeit. So entsteht kein Geschmier, 
sondern durchscheinende Schichtungen, die dem gra- 
enden Blick darunter liegende ältere Zustände zugänglich 
nachen. Das Werken des Malers zeigt sich durch die viel- 
ältigen Streiche auf die Oberfläche und zugleich durch 
den Weg zu dieser über zahlreiche verworfene Vorstufen. 
Was heftig und grob hingeworfen wirkt und die Energie 
spontanen Tuns bewahrt, erweist sich als sorgfältig erprobt 
ınd kalkuliert. 
Versucht man konkret, frühere Zustände zu entdecken, 
;tösst man rasch an Grenzen: wie bei archäologischen Aus- 
3rabungen müsste das Obere zugunsten des Unteren zer- 
;tört werden. Wichtig jedenfalls, dass das Ältere als Kampf 
ınd Schwere spürbar und sichtbar bleibt — etwa im Gegen- 
jatz zu Matisse. Gerade unter den freisten und schwebend- 
sten seiner späten Kompositionen liegen eine grosse Zahl 
von ganz anderen Vorformen, die von seinem Modell 
Delectorskaya photographisch dokumentiert wurden und 
die doch die fraglose Selbstverständlichkeit und dekorative 
Leichtigkeit des Resultates nicht im geringsten belasten. 
3ei Baselitz fällt immerhin auf, dass häufig die Farbe der 
entsprechenden Stelle des Gegenstücks durchschimmert: 
unter dem Grau des rechten Flügels etwa der bläuliche und 
oraunrote Ton des linken Teils, unter diesem wiederum das 
Schwarz, das im Stilleben dominiert. während sich das Röt- 
liche des Randbereiches im Mittelfeld als übermalt 
bemerkbar macht. 
Diese Beobachtung führt auf das Naheliegendste zu- 
rück: die zweiteilige, polare oder binome Struktur, die 
iedem Diptychon eignet und hier zu einem viele Verhält- 
nisse durchdringenden Prinzip wird. Man braucht nicht 
gerade auf den Anfang der Genesis mit der Entstehung von 
Himmel und Erde, der Trennung von Licht und Finsternis 
zurückzugreifen: aber die Erzeugung verklammerter 
Gegensätze gehört zu den schöpferischen Grundopera- 
tionen. Ein Einzelnes mag zufällig sein: tritt sein Gegenpol 
dazu, entsteht erst Spannung und wird die Kategorie 
bestimmt, in der sich das Problem entfaltet. Kommt zu 
einem roten Quadrat ein rotes Dreieck, geht es um die 
Formen, gesellt sich aber zum roten Quadrat ein blaues 
Viereck, drehen sich die Fragen um die Farbe. Reines Rot 
und reines Blau setzt Baselitz in den beiden Tüchern des 
Stillebens einander gegenüber; alle anderen Gesichts- 
punkte — Malstruktur, Flächenform, Quantität, Räum- 
lichkeit und Plastizität — werden überhaupt oder durch 
Gleichbehandlung entwertet. Hier tönt im lauten Grund- 
akkord, was unterschwellig die ganze Fläche durchzieht: 
Der Kontrast des Kühlen und Bläulichen zum Warmen 
und Roten, des grauen zum braunen Flügel. 
Weitere Demonstrationen von Problemen der Malerei 
im allgemeinen braucht man nicht lange zu suchen. Das 
Bild im Bild wirft die Frage nach dem Verhältnis von Inhalt 
und Rahmen auf: links in reiner positiver Entsprechung 
hingestellt, wird das Binnenrechteck im grauen Grund 
‚echts gerade noch so schwach angetönt, dass es als Andeu- 
tung verschwindend wirksam bleibt. Dazu trägt der weisse 
Winkel bei, in dem die weisse Hinterlegung des schwarz- 
grundigen Stillebens anklingt. Das helle Hervorschim- 
mern wird durch den Kontrast zum scharf gezeichneten 
Winkel erst als formlose Folie zum Abheben des schwarzen 
Rechtecks bestimmt — und nicht etwa als weisse Einfas- 
sungslinie. Dieses Verhältnis wiederum stellt die exakte 
Umkehrung der Beziehung der Malerei zum äusseren oder 
'atsächlichen Bildrand vor. 
Wenn man mit der Beschreibung solch offensichtlicher 
und einzeln betrachtet simpler Oppositionen, die erst in 
der Umsetzung vom Bild zur Sprache verwirrlich zu tönen 
beginnen, weiterfahren will, kommt man schwerlich an ein
	        
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